Die ehrgeizigen Ziele des Software-Konzerns

SAP erfindet sich neu

24.07.2006 von Eva Müller
SAP-Chef Henning Kagermann will aggressiv expandieren. Doch dafür muss der deutsche Software-Konzern sein Geschäftsmodell radikal wandeln.
Henning Kagermann: Der SAP-Chef will in die Topliga der IT-Branche aufsteigen.
Foto: SAP

Eine ungewöhnliche Runde saß an diesem schwülen Apriltag auf der Bühne im Festsaal des Münchener "Hilton". Ein Ebay-Powerseller, ein Werkzeugbauer, der Vertreter eines jungen Sparten-TV-Senders sowie ein türkischer Heiztechnikfabrikant - kleine, rührige Unternehmer. Und mit ihnen auf dem Podium einer aus der Dax-Liga: SAP-Chef Henning Kagermann (58).

Der Vorstandsvorsitzende des drittgrößten Softwarekonzerns der Welt parlierte mit den Mittelständlern über die Vorteile der SAP-Produkte für ihre Firmen. "SAP-Unternehmertage" nennt sich die Werbetour, mit der sich Kagermann bereits in Frankfurt und Münster um die Gunst des Mittelstandes gemüht hatte.

Erstaunlich! Eigentlich gilt SAP als Software-Lieferant der großen Konzerne. Für Firmen mit weniger als 500 Millionen Euro Umsatz schienen die Systeme aus dem nordbadischen Walldorf bislang viel zu mächtig und komplex. Jetzt aber wirbt der Chef selbst bei Minibetrieben für seine Programme.

Die Erklärung ist simpel. Kagermann muss sich neue Abnehmer suchen. Weil in 75 Prozent aller Großunternehmen SAP läuft, kann der Konzern in seinem Stammgeschäft kaum mehr zulegen.

Kalkulationskünstler Kagermann

Kagermann aber will Wachstum - und zwar viel, sehr viel. SAP soll aufsteigen "in die alleroberste Liga der globalen Unternehmen" (Kagermann), in einer Klasse spielen mit IBM und Microsoft .

Angriffslustig funkeln seine blauen Augen, wenn der Mathematikfan die Marktchancen von SAP zusammenrechnet: Bis 2010 will er den Umsatz des Konzerns von 8,5 Milliarden Euro im vergangenen Jahr annähernd verdoppeln. Das zweistellige Plus pro Jahr soll nicht wie bei seinem Erzkonkurrenten, Oracle-Chef Larry Ellison (62), durch Zukäufe, sondern durch organisches Wachstum entstehen - von Übernahmen winziger Technologiefirmen einmal abgesehen.

Nun beziffert Kagermann selbst den Gesamtmarkt, dem er derzeit seine Produkte andient, auf rund 30 Milliarden Dollar. Hier soll SAP zwar auch überproportional zulegen - etwa in den Regionen Asien mit China oder Südamerika oder in den Branchen Handel und Finanzdienste. Für den großen Sprung nach vorn aber ist der Stammmarkt zu klein. Und so kalkuliert der Physikprofessor flink einen Ausweg aus der Wachstumsfalle: "Wir wollen den von uns adressierbaren Markt bis 2010 auf 70 Milliarden Dollar ausdehnen".

In drei Bereichen will er SAP zusätzliche Absatzchancen eröffnen: Der Mittelstand soll sich für seine traditionelle Software zur Verwaltung von Finanzen, Personal oder Logistik begeistern. Bei bestehenden Kunden sollen zusätzliche Nutzer gewonnen werden. Und mit Produktinnovationen will Kagermann Klienten erreichen, für die das SAP-Portfolio bislang gar nicht in Frage kam.

Aufgehen kann das Kalkül aber nur, wenn Kagermann das Geschäftsmodell von SAP radikal verändert. Deshalb modeln die Walldorfer gerade die Technik ihrer Software grundlegend um, richten die Organisation global aus und stellen den Vertrieb auf Massenprodukte um.

Kurz - Kagermann verpasst seinem Unternehmen "den größten Umbau unserer Geschichte". Fragt sich nur, ob das Unternehmen, das seine Mitarbeiter als eine sehr spezielle Firma empfinden, den rasanten Wandel verkraften kann.

Angst um das Arbeitnehmerparadies

In der Zentrale mehren sich die skeptischen Stimmen, die eine Beschädigung der Firmenkultur befürchten. Doch ohne die außergewöhnlich hohe Motivation seiner Leute, die selbstständig, flexibel und kreativ immer neue Hightech-Produkte entwickeln, kann Kagermann seinen schönen Zukunftsplan vergessen.

Denn SAP ist in der Tat anders als die anderen. Beim ersten Besuch im Hauptquartier in der Rheinebene fragt sich wohl so mancher Gast: Bin ich an der Uni oder in einem Unternehmen? Das bunte Sammelsurium von Gebäuden an der Dietmar-Hopp-Allee könnte auch ein veredelter Ableger der 30 Minuten entfernten Universität Heidelberg sein.

In den nach Feng-Shui-Prinzipien gestalteten Innenhöfen und Gärten lagern Grüppchen lässig gekleideter junger Menschen und debattieren angeregt in der Mai-Sonne. An etlichen Tischen auf der Terrasse der Mensa - pardon, Kantine - sitzen Jeansträger und hacken auf ihre Laptops ein.

Brunnen plätschern. Pfälzische Wortfetzen mischen sich mit indisch akzentuiertem Englisch und breitem Amerikanisch. Asiaten lachen mit Blondschöpfen, slawische Typen mit Südländern. Ungewöhnlich viele Frauen reden mit. Und alle duzen sich. Sogar der Chef wird mit Henning angesprochen - allerdings kombiniert mit "Sie".

Kommunikativ, intelligent, selbstständig wirken die Mitarbeiter auf dem Campus Walldorf, wie die Zentrale intern heißt. Die Arbeit scheint ihnen so richtig Spaß zu machen.

Was Wunder: Die 36.600 SAPler - zu 80 Prozent Akademiker - tüfteln an anspruchsvollen Aufgaben und werden dafür erstklassig entlohnt. Ihre Arbeitszeit können sie frei einteilen, nach Wunsch im Büro oder zu Hause werkeln. Mittagessen ist kostenlos, ebenso Kaffee, Cola und süße Teilchen in vielen lichten Kaffeebars. Fitnessstudio, Arztpraxis, Rückenschule, sogar Psychologenrat stehen gratis zur Verfügung.

Freiräume gefährdet

Aus diesem Arbeitnehmerparadies fürchten nun etliche der Walldorfer Angestellten vertrieben zu werden. Kagermanns Umbauplan, so unken überwiegend langjährige Mitarbeiter, gefährde Freiräume und bremse die kreative Dynamik des Unternehmens.

Lang gediente Angestellte fühlen sich bereits durch das 2004 eingeführte Performance-Management gegängelt, das für jeden SAPler klare Ziele festlegt. Die neue Organisation für den in den vergangenen Jahren extrem gewachsenen Konzern empfinden Veteranen als übertriebene Bürokratie - ja als "Überwachungsstaat", wie einer klagt. Und die Einrichtung von Entwicklungslabors in den USA, in Indien, Israel, China oder Osteuropa sehen sie als Bedrohung für die Arbeitsplätze in Walldorf.

Hinter dem neuen Wachstumsplan vermuten die Nostalgiker weitere Einschränkungen ihrer Entfaltungsfreiheit: verschärfte Arbeitsteilung, stärkere Globalisierung sowie den Verlust der Vorherrschaft Walldorfs im Konzern.

Kaum verwunderlich also, dass Anfang des Jahres drei Mitarbeiter die Gründung eines Betriebsrats forderten, erstmals in der 34-jährigen Historie von SAP. Im Juni wurde das Gremium gewählt.

Kulturaufruhr und Wachstumswagnis, Kagermann weiß genau, wie viel er SAP zumutet. Und der messerscharfe Analytiker erkennt ebenso klar, dass er beide Herausforderungen bald bewältigen muss. "2006 ist das Jahr der Entscheidung für SAP", konstatiert der Vordenker. Bis zum Beschluss über seinen Verbleib auf dem Vorsteherposten Anfang nächsten Jahres - sein Vertrag läuft Ende 2007 aus - werde sich weisen, ob die Zukunftsstrategie funktioniere.

Auf der Watch-Liste

Sie muss! Nur wenn der Hightech-Konzern zweistellig wächst, steigt sein Aktienkurs. Eines hohen Wertes aber bedarf es, damit das einzige bedeutende deutsche Software-Unternehmen unabhängig bleiben kann. Die Fusionsgespräche mit Microsoft jedenfalls scheiterten nur am Preis. Und über ein Interesse von IBM an SAP wird weiter heftig spekuliert. Daher soll sich die Marktkapitalisierung bis 2010 fast verdoppeln.

Kagermann packt also an. Mittelstand werben, neue Nutzergruppen erschließen, innovative Anwendungen verkaufen - alle drei Zukunftsbereiche drehen voll auf. Die "Sapphire"-Hausmessen in Florida und Paris präsentierten Mitte Mai und Anfang Juni Unmengen neuer Produkte.

In glühenden Farben schildern SAP-Repräsentanten die verbesserten Varianten der Produkte "All in One" und "Business One". Die für mittlere und kleine Firmen maßgeschneiderten Pakete aus Standardmodulen - etwa für Finanz- oder Personalwesen - sollen die meisten der neuen Käufer beglücken, die SAP in den nächsten Jahren gewinnen will. Von heute rund 33.000 will Kagermann die Zahl der Kunden bis 2010 auf gut 100.000 steigern.

"Ein reichlich ehrgeiziger Plan", kommentiert Karin Henkel, Analystin beim Branchendienst Strategy Partners. Immerhin versucht SAP schon seit elf Jahren, kleinere Unternehmen zu ködern - mit mäßigem Erfolg. Erst 17.800 SAP-Kunden gehören heute im weitesten Sinne dem Mittelstand an, meist sind es bedeutende Zulieferer von Konzernen. Das für Minikunden gedachte "Business One" soll wie Blei in den Regalen liegen.

Mittelstand im Visier

Die Bemühungen um die neue Klientel scheiterten vor allem am Vertrieb. Hauseigene Vertreter gaben sich nicht mit dem Kleinvieh ab, andere Kanäle beherrschte SAP nicht.

"Bis vor zwei Jahren waren wir bei Mittelstandshändlern ein Niemand", räumt Tom Kindermans, Bereichsleiter für das Partnergeschäft, ein. Mittlerweile gebe es weltweit zwar rund 2.000 Vertriebspartner. Weil SAP dennoch in den meisten Ländern unterrepräsentiert sei, werde weiter aufgebaut.

Den Einwand, die Walldorfer fänden kaum neue Händler, da sie Unsummen für die technische Zertifizierung verlangten, wischt Kindermans beiseite: "Wir wählen unsere Partner sehr sorgfältig. Sie müssen eben investieren."

Ohnehin sei SAP den Händlern sehr entgegengekommen. Heute dürften sie bis auf wenige Ausnahmen auch Firmen mit bis zu 500 Millionen Euro Umsatz versorgen. Früher habe die Grenze bei 130 Millionen Euro Jahresumsatz gelegen, darüber bediente SAP selbst.

Ein geschickter Schachzug. So preist etwa Jürgen Hermann, Leiter Finanzen beim Telekommunikationsanbieter QSC , den tollen Service, den er von SAP-Partner IDS Scheer erhält, als "professionell und kundenorientiert".

Angesichts solcher Lobeshymnen beurteilen Experten Kagermanns Ziel, über den Handel pro Jahr mehr als 10.000 neue Abnehmer zu gewinnen, als durchaus erreichbar. "Zumal SAP seine Produkte mittlerweile besser auf die Bedürfnisse kleinerer Firmen ausgerichtet hat", wie Analystin Henkel urteilt.

Neue Kundengruppen

Der Mittelstand erwärmt sich offenbar langsam für SAP. Doch seine Eroberung macht nur ein Drittel von Kagermanns Wachstumsvision aus. Das zweite Drittel soll der Verkauf zusätzlicher Einzelplatzlizenzen bringen. Sprich: SAP will die Zahl der Nutzer bei Bestandskunden ausweiten - mit neuen Anwendungsgebieten und simplerem Zugang zu den alten Systemen.

Abertausende Vertriebskräfte sollen zum Beispiel auf ein Programmmodul für das Management von Kundenbeziehungen zugreifen. Auf Controller münzen die Walldorfer das Prüfwerkzeug "Analytics". Die Nutzung der komplexen SAP-Systeme vereinfacht das gemeinsam mit Microsoft entwickelte Produkt "Duet". Damit können Mitarbeiter ohne spezielle Ausbildung direkt aus ihrem Office-Programm diverse SAP-Funktionen bedienen.

Im Verkauf zusätzlicher Lizenzen sieht Rüdiger Spiess, Analyst beim IT-Berater Experton, riesige Chancen: "SAP hat im Schnitt erst 25 Prozent des Nutzerpotenzials bei seinen Kunden ausgeschöpft." Andere Industriekenner hingegen lästern, den Konzernen sei der Nutzen zusätzlicher SAP-Anwender nur schwer zu vermitteln. Schließlich lagerten in ihren Kellern massenhaft unbenutzte SAP-Lizenzen.

Gemischte Aussichten also für Kagermanns Expansionsgelüste im Kundenbestand und bei den Mittelständlern. Uneingeschränkte Euphorie indes löst das dritte Element seiner Zukunftsvision aus - die so genannte Business-Process-Platform, kurz BPP. Bei dieser innovativen Technik hat SAP rund zwei Jahre Vorsprung vor der Konkurrenz.

Modell Lego

Mit der BPP-Systemarchitektur bildet die SAP-Software keinen monolithischen Block mehr, der umfangreicher Anpassungen beim Kunden bedarf. Vielmehr setzen die einzelnen Funktionen wie Bausteine auf einer Grundplatte auf. Weil alle auf der gleichen Programmiermethode - der Netweaver-Technik - basieren, arbeiten die Elemente nahtlos zusammen. Dabei ist es unerheblich, ob sie von SAP selbst, der IT-Abteilung eines Konzerns oder einer unabhängigen Software-Firma gebaut wurden.

Die Winzer-Software der Firma Kirbis aus Niefern-Öschelbronn zum Beispiel enthält SAP-Standardteile wie Rechnungsstellung und Weinbauspezifisches wie ein elektronisches Kellerbuch. Rund 100 Kellereien planen derzeit die Einführung des Systems - eine Klientel, die SAP allein niemals selbst erreichen würde.

Zwar können die Walldorfer für BPP-Software Dritter nur einen Teil der Lizenzeinnahmen kassieren. Schließlich stellen sie nur Elemente wie Programmierwerkzeuge oder Standardprozesse bereit. Die Umstellung des Geschäftsmodells von "Alles made by SAP" auf Entwicklungskooperationen orientiert sich aber an einem extrem profitablen Vorbild: Microsoft verdient mit seiner Entwicklergemeinde Milliarden.

Konzernprimus Kagermann könnte mit BPP ähnlich erfolgreich werden. "Der Markt saugt BPP-Programme auf wie ein nasser Schwamm", schwärmt Loren Heilig, dessen Firma IBSolution solche Spezialitäten bastelt.

Kronprinz Agassi

Der Jungunternehmer zählt zu einer rasant wachsenden Gemeinschaft von BPP-Entwicklern, die Entwicklungsvorstand Shai Agassi (38) sorgsam pflegt. 1.000 Softwarefirmen haben sich bereits für Netweaver-Technik zertifizieren lassen, damit 300 Produkte konstruiert - und täglich werden es mehr.

Die Plattformstrategie könnte sich zum Wachstumsmotor für SAP entwickeln. Gleichzeitig dürfte sie aber auch die größte Bedrohung für die Kultur des Konzerns darstellen.

"Durch die Umstellung auf BPP organisieren wir die Software-Entwicklung sehr viel arbeitsteiliger als bisher", erklärt Kagermann. Diese "Industrialisierung des Code-Schreibens" fördert die Verteilung der Programmierarbeit auf Standorte in aller Welt. So entstehen neben den vier Entwicklungszentren in Walldorf, im kalifornischen Palo Alto, im indischen Bangalore und im israelischen Ra'anana sechs weitere themenspezifische Labore - alle nicht in Deutschland.

Ein bedrohliches Szenario für manche langjährigen Mitarbeiter: Schließlich sind sie von jeher an große Selbstständigkeit und eine absolute Vorherrschaft Walldorfs gewöhnt. Sollen nicht Demotivation und Verunsicherung Kagermanns Ambitionen zerstören, muss ihm schon bald der Kulturwandel gelingen.

"Wir wollen das Gute aus der Vergangenheit bewahren und zugleich das Neue fördern", proklamiert deshalb Personalvorstand und Arbeitsdirektor Claus Heinrich (50). Und zählt gleich ein ganzes Arsenal an Maßnahmen auf, das die Mitarbeiter bei Laune halten soll.

In vierteljährlichen Mitarbeitergesprächen schwört das Führungsteam die Mannschaft auf ihre Vision von einer großen, globalen SAP ein. In Diskussionsrunden und Mitarbeiterbefragungen suchen Kagermann und Co. Ängste und Kritik zu ergründen.

Neue Formen von Personalführung

Seit 2005 wird für jeden SAPler ein persönlicher Entwicklungsplan erstellt, um ihm Chancen in der veränderten Firma aufzuzeigen. Für die Bewältigung der Globalisierung hat Heinrich sogar eine Projektgruppe "Diversity Management" eingeführt. In hunderten Kursen lehren Fachleute den Umgang mit verschiedenen Kulturen und Mentalitäten.

Den ultimativen Motivationsjoker allerdings spielte Aufsichtsratschef Hasso Plattner (62) auf der Hauptversammlung Anfang Mai aus. Verdoppelt sich die Marktkapitalisierung bis 2010, schüttet er einen Bonus von bis zu 300 Millionen Euro aus. Davon gehen zwar 100 Millionen an den Vorstand. Der Rest aber soll über alle Hierarchieebenen verteilt werden, allerdings nur an die Leistungsträger. Wer würde da hemmen und stören wollen?

Rasantes Wachstum, technologischer Umsturz und tief greifender Kulturwandel - der SAP-Vordenker hat sich ein gigantisches Programm vorgenommen. Analysten halten den Totalumbau des Geschäftsmodells für übermäßig ambitioniert. Kagermann selbst nennt ihn "realistisch" - schließlich habe SAP bislang noch jeden Kraftakt gepackt.

Und fügt nüchtern hinzu: "Jede erfolgreiche Strategie besteht aus 20 Prozent Vision und 80 Prozent Schweiß. Wir schwitzen jetzt."