Was Analysten meinen

Siemens verkauft IT-Tochter SIS

16.12.2010 von Nicolas Zeitler
Mit Fokus auf Cloud Computing und Erfahrung mit Transaktionssystemen ist Atos nach der SIS-Übernahme gut aufgestellt. Entscheidend wird die Integrationsphase.

Nach dem Ausstieg von Siemens aus seiner seit Oktober bereits rechtlich selbstständigen Sparte SIS fallen die Urteile von Analysten grundsätzlich positiv aus. Für 850 Millionen Euro kauft der französische IT-Dienstleister Atos Origin Siemens IT Solutions and Services. Siemens erteilt Atos im Gegenzug einen Auftrag von 5,5 Milliarden Euro. Außerdem steigt Siemens für fünf Jahre mit einem Aktienanteil von 15 Prozent bei Atos Origin ein.

Laut Thierry Breton, CEO von Atos Origin, entsteht mit der Übernahme der Siemens IT Solutions and Services ein "paneuropäisches Unternehmen".
Foto: Atos Origin

Thierry Breton, CEO von Atos Origin, sagte auf einer Pressekonferenz am Mittwochvormittag in Paris, durch die neue "Partnerschaft" entstehe ein "wirklich europäisches" Unternehmen. Siemens-CEO Peter Löscher sagte, die Eingliederung von SIS in Atos Origin sei ein wichtiger Schritt nicht nur für die Kooperation von Frankreich und Deutschland, sondern für die Wettbewerbsfähigkeit Europas.

Für Siemens werde Atos künftig "der Service-Anbieter" in der IT sein, gab Löscher bekannt. Der auf sieben Jahre angelegte Outsourcing-Vertrag, den der Technologiekonzern an Atos Origin vergibt, entspricht mit seinem Volumen von um die 5,5 Milliarden Euro laut einer am Mittwoch von Atos Origin gehaltenen Analystenkonferenz 80 Prozent des Umfangs an IT-Leistungen, die Siemens von extern bezieht.

Laut Atos Origin entsteht ein "neuer europäischer IT-Champion". Der kommt auf einen pro forma Gesamtumsatz von rund 8,7 Milliarden Euro und hat weltweit 78.500 Mitarbeiter, darunter 62.500 Ingenieure.

Der Einstieg von Siemens bei Atos Origin als Aktionär umfasst 12,5 Millionen Aktien von Atos Origin zum derzeitigen Wert von 414 Millionen Euro. Außerdem erwirbt Siemens eine fünf Jahre laufende Wandelanleihe über 250 Millionen Euro und eine Zahlung von rund 186 Millionen Euro in bar.

Siemens erhält Sitz im Vorstand von Atos Origin

Siemens-Chef Peter Löscher erklärte, die Chemie zwischen Atos Origin und Siemens stimme.
Foto: Siemens-Pressebild

Siemens erhält einen Sitz im Vorstand der Atos Origin, wie auf der Analystenkonferenz mitgeteilt wurde. Gerade das Modell der "Partnerschaft" zwischen beiden Firmen mache die Stärke des neuen Unternehmens aus, erklärte Peter Löscher auf der Pressekonferenz. Daher habe man sich dafür entschieden und nicht etwa für einen reinen Verkauf der SIS.

Atos verdeutlichte den Stellenwert des neuen Unternehmens. Gemessen an Umsätzen des Jahres 2009 platziere sich die neue Organisation im Markt für IT-Services europaweit an dritter Stelle hinter IBM und HP-EDS. Weltweit rangiere das Unternehmen an siebter Stelle in diesem Markt.

Sieben Prozent Marktanteil in Deutschland

Die Umsätze von SIS und Atos zusammen genommen, komme das neue Unternehmen in Deutschland mit rund 1,9 Milliarden Euro auf etwas über sieben Prozent Marktanteil. In Frankreich liegt der Marktanteil laut der Analystenkonferenz bei rund 1,6 Milliarden Euro und damit bei mehr als acht Prozent.

Sowohl Siemens als auch Atos Origin legten in ihren Präsentationen Wert darauf zu zeigen, wie gut sie sich als Partner ergänzen. Weder im wichtigsten Geschäftsfeld der Managed Services, das 52 Prozent des Umsatzes ausmacht, noch bei Systemintegration und Beratung sowie weiteren Dienstleistungen gebe es Überschneidungen in der Kundschaft.

Löscher sagte wiederholt, bei den Gesprächen, die vor rund sechs Monaten begonnen hätten, sei deutlich geworden, dass die Kulturen beider Unternehmen gut zusammenpassten. Spezielles Know-how bringt Siemens in den Bereichen Gesundheit und Zahlungssysteme ein. Man habe bereits zehn gemeinsame Projekte in Vorbereitung, hieß es. In Forschung und Entwicklung wollen Siemens und Atos Origin gemeinsam 100 Millionen Euro investieren.

Atos Origin will sich nach der Übernahme zu einem der wichtigsten Anbieter von Cloud Computing entwickeln. Thierry Breton sagte bei der Pressekonferenz, man sei dafür nun gut aufgestellt. Aufgrund der neuen Unternehmensgröße sei man wettbewerbsfähiger, um große weltweit ausgeschriebene Aufträge an Land zu ziehen.

Atos will Übernahme der SIS bis Juli abschließen

Im Juli 2011 soll der Übergang der SIS an Atos Origin abgeschlossen sein. Die Kartellbehörden müssen noch zustimmen, ebenso die Aktionäre von Atos Origin. Atos Origin muss zudem noch seine Arbeitnehmervertreter anhören. Schon im Geschäftsjahr 2011 soll das neue Unternehmen eine operative Marge von sechs Prozent erreichen. Bis 2013 soll der Umsatz auf neun bis zehn Milliarden Euro wachsen, die Ergebnismarge soll dann bei sieben bis acht Prozent liegen.

Siemens zahlt für die Integration der SIS bei Atos Origin: Bis zu 250 Millionen Euro will der Konzern für Weiterbildungsmaßnahmen und Integrationskosten zur Verfügung stellen. Siemens stellt auch die Pensionsverpflichtungen der bisherigen SIS-Belegschaft sicher, die von Atos Origin übernommen werden.

Mit der Eingliederung ist ein Abbau von weltweit 1750 Stellen bei Siemens IT Solutions and Services verbunden. 650 Arbeitsplätze werden in Deutschland wegfallen, vor allem in Verwaltung und Zentralfunktionen.

Das Programm "TOP2" soll die neue Organisation profitabler machen. Gelingen soll das unter anderem durch Synergien bei Einkauf von Hard- und Software und Verwaltungskosten. Bis 2013 soll sich der EBIT dadurch um 225 Millionen Euro verbessern.

Problemtochter SIS ausgegliedert

Die SIS galt seit langem als Problemkind von Siemens. Im Geschäftsjahr erzielte der IT-Dienstleister 4,2 Milliarden Euro Umsatz und kam damit auf ein Negativ-Ergebnis von 537 Millionen Euro. Mehrfach gab es bei SIS Management- und Strategiewechsel. Mit Beginn des neues Geschäftsjahres Anfang Oktober hatte Siemens-Chef Peter Löscher SIS ausgegliedert. Seither operiert der Dienstleister als GmbH.

„Es war wichtig, dass jetzt endlich Klarheit geschaffen wurde“, sagt Matthias Kraus, Research Analyst bei IDC, zu der jetzt erfolgten Übernahme. Regional und auch thematisch ergänzten sich die bisherige SIS und Atos Origin gut. Dass sich Atos als europäisches Unternehmen verstehe, beurteilt er grundsätzlich positiv. „Einige europäische Unternehmen favorisieren einen europäischen Dienstleister als Ansprechpartner.“ Es werde aber auch nötig werden, dass sich die neue Atos Origin noch globaler aufstelle.

Matthias Kraus von IDC beurteilt es als positiv, dass Atos Origin Cloud Computing zum Schwerpunktthema macht. "In diesem Bereich gibt es viel Beratungsbedarf", sagt er.
Foto: IDC

Dass Atos Origin Cloud Computing als ein Schwerpunktthema benannt habe, sieht Kraus positiv. „Das ist weit mehr als ein Hype, in diesem Bereich gibt es beispielsweise viel Bedarf an Beratung und Systemintegration“, erklärt er. Wichitg sei, dass Atos zu dem Thema eine Roadmap aufzeige.

Wichtig sei auch, intern schnell Weichen zu stellen – auch angesichts der angekündigten Stellenstreichungen. „Wie bei anderen Mergern zu beobachten war, können die Versunsicherung und anstehende organisatorische Veränderungen dazu führen, dass die Motivation sinkt oder gute Mitarbeiter das Unternehmen verlassen“, erklärt er.

Christophe Chalons von Pierre Audoin Consultants hält es für wichtig, dass die bisherige SIS ihre neue Stärke im Vertrieb weiter ausbaut.
Foto: PAC

Als entscheidend für den Erfolg des neuen Unternehmens betrachtet Christophe Chalons, Chief Analyst beim Beratungsunternehmen PAC, die bevorstehende Integrationsphase. Auch wenn mangelnde Profitabilität in der Vergangenheit ein wesentlicher Makel von SIS gewesen sei, dürfe man jetzt nicht zu sehr weitere Kostensenkungen im Blick haben. „Man muss aufpassen, dass man dabei nicht zu sehr an die Substanz geht“, sagt er angesichts des zurückliegenden und des angekündigten weiteren Stellenabbaus bei der bisherigen SIS. Siemens' einstige IT-Tochter habe jüngst wieder eine starke Vertriebsmannschaft aufgebaut. Die gelte es weiter auszubauen. „Das sind gute Leute, denen muss man noch mehr Mut geben, damit sie Deals gewinnen“, sagt Chalons.

Atos Origin erfahren bei Transaktionssystemen

Als eine der Stärken des neuen Unternehmens bezeichnet Chalons den Bereich HTTS, also Transaktionssysteme von E-Commerce bis Smart Metering. Atos Origin habe auf diesem Feld viel Erfahrung und betreibe vor allem in Frankreich mehrere große Projekte – etwa im Umfeld elektronischer Gesundheitsakten. HTTS sei ein sehr gewinnträchtiges Geschäftsfeld. „Zusammen mit Siemens könnte da einiges entstehen“, ist er überzeugt.

Noch offen ist für Chalons, wie sich Atos Origin beim Infrastruktur-Outsourcing aufstellen wird. Vom Umsatz her stehe man nun weltweit auf Rang drei – eigentlich eine gute Ausgangsposition, um „bei großen Deals mitzumischen“, meint der Analyst. „Die Frage ist für mich aber noch, ob sie das auch wollen; das kann man nämlich nicht halbherzig machen“. Chalons hält eine Ausdehnung nach außerhalb Europas für wichtig. In zwei bis drei Jahren, so meint er, sollte Atos Origin einen indischen Dienstleister kaufen und sich auch in den USA positionieren.

Für wahrscheinlich hält er, dass Siemens seiner einstigen Tochter auf längere Sicht verbunden bleiben wird. Ein Ausstieg als Anteilseigner ist zwar in fünf Jahren möglich. Chalons sieht allerdings die Option, dass der Technologiekonzern seine Anteile auf bis zu 25 Prozent erhöht. Die Partnerschaft zu Atos sei für Siemens wichtig. Für seine Industrieanlagen brauchten die Münchner IT-Kompetenz. „Daher ist es sinnvoll, mit Atos Origin in vielen Bereichen zusammenzuarbeiten.“

Als Beleg für eine „lange erwartete Konsolidierung im IT-Service-Markt“ bezeichnet Hartmut Jaeger, Mitglied der Geschäftsleitung von PA Consulting Group in Deutschland, die Übernahme von SIS durch Atos Origin. Andere Anbieter müssten nun versuchen, ihre Marktanteile weiter zu vergrößern. Regionale Anbieter und IT-Töchter von Konzernen sieht Jaeger unter wachsendem Druck. „Wer jetzt nicht aktiv wird, droht weiter zurückzufallen und damit auch die Fähigkeit zu verlieren, die großen Trends bei IT-Services nachhaltig zu unterstützen“, meint der Berater.

Integration von IT-Dienstleistern eine kritische Phase

Hartmut Jaeger von der PA Consulting Group erwartet steigenden Druck auf regionale Dienstleister und IT-Töchter von Konzernen.
Foto: PA Consulting Group

Kunden von IT-Dienstleistern fordert Jaeger auf, bestehende Verträge auf Regelungen im Falle einer Übernahme zu prüfen. Die Integration eines Dienstleisters nach dem Kauf durch einen anderen sei eine kritische Phase. „Sie muss extrem gut gemanaged werden, um die Service-Qualität bei Bestandskunden nicht zu gefährden.“