E-Health in Deutschland

"Umsetzungsschwäche tut weh"

16.04.2007 von Jürgen Kotschenreuther
Die Politik steht auf der Bremse, die IT-Wirtschaft macht Druck, die Ärzte setzen auf Boykott: Mit der Vernetzung im Gesundheitswesen hapert es in Deutschland. Das ist die Quintessenz der IDC-Konferenz "Die Antworten der Informationtechnologie auf die Gesundheitsreform".

Nach Verabschiedung einer um zentrale Inhalte wie elektronische Gesundheitskarte (eGK) und Telematik "abgespeckten" Gesundheitsreform ist die Stimmung unter den IT-Anbietern miserabel. Sie ist gekennzeichnet durch Frust, Enttäuschung, Unzufriedenheit und Pessimismus. Und als Folge einer ausgeprägten Interessendivergenz gibt es Unübersichtlichkeit, Konfusion und Verwirrtheit. Die Vorwürfe sind nicht zu überhören.

Der Geschäftsbereichsleiter Healthcare bei T-Systems Hubert Haag wettert gegen die Politik.

So wetterte Hubert Haag, Geschäftsbereichsleiter Healthcare bei T-Systems, massiv gegen die Politik: Er hielt ihr "Ränkespiele" vor, die für die Verzögerungen in Sachen eGK und Telematik verantwortlich seien. Zwar geschehe vieles, aber "meistens zu langsam". Die "Umsetzungsschwäche tut weh“, sagte er. Darüber hinaus kritisierte er das "sektorale Chaos", "Vernetzungswust" und "Durcheinander" sowie die zunehmende Komplexität bzw. "Vielfältigkeit der Stellschrauben": "Es gibt viele Variablen, immer mehr." Befragt auf Möglichkeiten, was getan werden könne, um die Situation zu verbessern, meinte er, es sei „eigentlich zu spät." Am Ende nur noch zynische Hoffnung auf Besserung: "Vielleicht lernen wir’s irgendwann mal,“ so Haag.

Auch Peter Reuschel, Vorstandsvorsitzender der InterComponentWare (ICW), hielt mit Kritik nicht hinter dem Berg. Die Große Koalition sei mit dem Thema Gesundheit "nicht ehrlich" umgegangen und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Sektoren des Gesundheitswesens habe nicht funktioniert. Mit Blick auf die Einführung neuer Technologien sprach er sich gegen zentralistische oder gar diktatorische Methoden aus. Allerdings habe die eGK die vorgegebenen Ziele nicht erreicht und mit dem Marketing der Karte seien falsche Erwartungen geweckt worden. Mehr als die eGK biete die "elektronische Gesundheitsakte“ (eGA), die jetzt für einen Roll-out reif sei.

Die Lamentos und Beschwerden der IT-Wirtschaft mögen berechtigt sein, oder auch nicht. Viel weiter werden sie die Branche wahrscheinlich nicht bringen. Auch nicht der Aufruf von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem Mehr an "Begeisterung“ auf dem Potsdamer IT-Gipfel Ende letzten Jahres, oder die Forderungen von BDI-Chef Jürgen Thumann nach höherem Tempo. Gefragt sind jetzt vielmehr Strategien, die zur Lösung der tatsächlichen massiven Probleme taugen und aus dem derzeitigen Dilemma heraus führen.

Zu den größten Problemen zählt zweifellos der Mangel an Konsens, der sich vor allem im derzeitigen Boykott der eGK seitens der Ärzte manifestiert. Schwerwiegend ist auch der Vorwurf des Lobbyismus, der in erster Linie an die IT-Wirtschaft wie Bitkom, IBM und Siemens adressiert wurde. Die Erkenntnis setzt sich durch, dass nur ein intensiver Dialog und ein ernsthafter Interessenausgleich helfen kann. Neues Bewusstsein und Denken sowie neue Handlungsstrategien und Prozesse schaffen durch umfassende Kommunikation, Kooperation und Partnerschaft sind die großen Herausforderungen auf dem Weg in das Zeitalter moderner elektronisch unterstützter Gesundheitsversorgung. Dringender Diskussionsbedarf besteht hinsichtlich einer Finanzierung der telematischen Gesundheitsinfrastrukturen, die nicht zu Lasten der Ärzte geht. Im Gespräch ist, wie der Staat durch geeignete Finanzierungsmodelle die geplante Mega-Innovation anschieben kann und/oder muss. Natürlich wird die eGK dadurch nochmals verteuert.

Gerhard Härdter, der IT-Chef im Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus bezeichnet die Kommunikation zwischen IT und den Anwendern aus der Ärzteschaft als ein "Riesenproblem".

Darüber hinaus gibt es weitere, zahlreiche Herausforderungen. Ulrich Pluta, Business Development Manager Healthcare, Oracle, hielt auf der Fachkonferenz ein Plädoyer für weltweit einsetzbare eHealth-Lösungen. Deutschland habe in Sachen des Übertragungsstandards Health Level 7 (HL7v3) noch viel zu tun. Absolutes Muss sind der Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechts, der Privatsphäre ("Privacy“) und persönlichen Daten (Datenschutz).

Als ein "Riesenproblem“ bezeichnete Gerhard Härdter, Abteilungsleiter EDV beim Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, die Kommunikation zwischen zentraler IT und den Anwendern wie beispielsweise Chefärzten und anderen Nutzern. Die Verantwortung der IT-Chefs wachse enorm. Über den stabilen Betrieb von Rechenzentren und Infrastrukturen hinaus käme es künftig zunehmend darauf an, Nutzen und Mehrwert innovativer ICT-Lösungen zu vermitteln. Dies erfordere eine klare Service-, Anwender- und Nutzenorientierung. Härdter agiert bewusst offensiv, reagieren liegt ihm nicht. Die Bremsmanöver deutscher Politik irritieren ihn nicht: "Wir können nicht warten, bis die Gesundheitskarte aus Berlin kommt."

Die Politik steht auf der Bremse, die IT-Wirtschaft macht Druck, die Ärzte setzen auf Boykott. Damit die großen Innovationen der modernen ICT- und Sicherheitstechnologien genutzt werden können, ist übergreifender Dialog zwischen allen Akteuren, insbesondere Politik, Wirtschaft und Anwendern erforderlich. Bei alledem steht der Patient im Mittelpunkt. Schon aufgrund des riesigen Drucks, der von der demographischen Entwicklung und der damit zusammenhängenden Kostenexplosion ausgeht, gibt es zur Einführung einer leistungsstarken, qualitativ hochwertigen Gesundheitstelematikinfrastruktur keine Alternative. Je schneller, umso besser, denn Zeitverluste ziehen weitere Verteuerungen nach sich. Informatisierung und Vernetzung sind Megatrends, die längst auch das Gesundheitswesen erfasst haben. Sie werden zu einer Vielfalt von intelligenten, differenzierten und personalisierten Angeboten führen.