"Jeder Prozess und jedes User Interface muss künftig AI-enabled sein", forderte Frank Riemensperger auf dem Big-Data- und AI Summit des Branchenverbands Bitkom. "Die Einstiegshürde für die künstliche Intelligenz ist niedrig", ermutigte der Vorsitzende der Accenture-Ländergruppe Deutschland, Österreich und Schweiz die rund 1200 Teilnehmer. Unternehmen könnten heute ohne größere Vorabinvestitionen etwa mit Googles TensorFlow-Framework in das Thema einsteigen.
Derzeit spielt die Musik in Sachen künstliche Intelligenz (KI) allerdings nicht unbedingt in Deutschland. Riemensperger verwies darauf, dass China im internationalen Vergleich am meisten in KI-Initiativen investiere. Deutsche Unternehmen liefen Gefahr, den Anschluss zu verpassen.
"Künstliche Intelligenz wird eine Schlüsselrolle für die deutsche Industrie spielen und die zweite Welle der Digitalisierung einläuten", prognostizierte Andreas Dengel vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Viele sähen darin aber ein rein technisches Thema. Der Wissenschaftler rät Unternehmen, mehr zu experimentieren und sich im ersten Schritt auf Quick Wins zu konzentrieren.
Lufthansa: "Beginnen Sie nicht mit KI-Technik"
Wie so oft mangelt es hierzulande weniger an Forschungsaktivitäten als an der praktischen Umsetzung. "Beginnen Sie nicht mit KI-Technik", warnte etwa Marcel Kling, der bei der Lufthansa das Personalisierungsprogramm "smile" leitet. Die Suche nach der "goldenen KI-Methodik" habe schon viele Projekte ins Stocken gebracht. Entscheider sollten stattdessen mit einem konkreten Anwendungsfall und einem klar erkennbaren wirtschaftlichen Nutzen an den Start gehen.
Mit dem Programm "smile", das die Lufthansa bereits seit dem Jahr 2014 verfolgt, ist beispielsweise das Ziel verbunden, die Customer Experience zu verbessern. Dazu müsse man sämtliche Touchpoints nahtlos verbinden, erläuterte Kling. Überall dort, wo im Konzern Kundeninteraktion stattfinde, müsse die gleiche Informationsbasis vorliegen. Heute gebe es im Kundendialog oft Brüche, die nicht selten zu verärgerten Fluggästen führten. Mithilfe von künstlicher Intelligenz will die Lufthansa vor allem individueller auf Kunden eingehen.
Zu den ersten "smile"-Anwendungen gehören beispielsweise personalisierte Flugangebote und individuelle Zusatzdienste. So könnte einem Kunden auf dem Weg zum Terminal etwa zur richtigen Zeit via App ein Platz in der Lounge angeboten werden. Einen Schritt weiter gehen sogenannte "Customer Retention Services". Ein KI-basiertes System soll dabei aus negativen Serviceerlebnissen wie etwa einer Verspätung lernen und dem Fluggast auf Basis seiner individuellen Vorlieben und Präferenzen Kompensationsvorschläge unterbreiten. Das kann eine Flasche Champagner sein oder auch ein Upgrade in eine höhere Klasse.
Natürlich braucht auch ein Programm wie smile eine technische Infrastruktur. Die Lufthansa setzt dazu auf eine Microservices-Architektur. Klings Team sieht sich im Lufthansa-Konzern auch als Dienstleiser, der anderen Bereichen mithilfe von KI "Decision as a Service" für unterschiedliche Kundenszenarien zur Verfügung stellt. Smarte Systeme könnten im Idealfall automatisiert entscheiden, welche Produkte einem Kunden wann und in welcher Form offeriert werden.
Auch bei der Otto Group und der Consorsbank war nicht in erster Linie die Technik Ausgangspunkt von KI-Initiativen. So bietet Otto seinen Kunden beispielsweise aggregierte Produktbewertungen anderer Kunden als Service auf der Website an. Dafür hat das Unternehmen ein Machine-Learning-System entwickelt, das komplett auf Open-Source-Software basiert. Die Nürnberger Online-Bank Consorsbank versucht mithilfe von Machine Learning, mehr über ihre Online-Community herauszufinden und beispielsweise die wichtigsten Influencer in Fachdiskussionen zu identifizieren.
Machine Learning prognostiziert den Kraftstoffverbrauch
Weit fortgeschritten ist der Einsatz von KI-Techniken bereits in einigen technischen Bereichen. Die Lufthansa etwa setzt in der Flugzeugtechnik schon seit längerem auf künstliche Intelligenz und Machine Learning. Neben klassischen Bereichen wie der Flugzeuginstandhaltung mithilfe von Predictive Maintenance arbeitet der Konzern an einem Projekt zur Flugzeugeffizienz-Bewertung mit KI.
"Die vorhandenen Tools zum Aircraft Performance Monitoring sind überholt", berichtet Robert Heigl, Projektmanager Treibstoffeffizienz bei der Lufthansa Technik AG. Aktuelle Prognosen zum Kerosinverbrauch fielen deshalb zu ungenau aus. Gemeinsam mit der Technischen Universität Darmstadt hat Lufthansa Technik ein Machine-Learning-Framework entwickelt, das exaktere Prognosen liefern soll. Heigl: "Das Framework hilft dabei, die Ökoeffizienz von Flugzeugen zu ermitteln und Kraftstofftreiber zu identifizieren."
Eine Hürde in dieser KI-Initiative war es, Daten in ausreichender Menge und Qualität für das Training des Systems zu beschaffen, wie Uwe Klingauf von der Technischen Universität Darmstadt erläuterte. Deutsche Unternehmen und Behörden sind nach seiner Einschätzung im internationalen Vergleich besonders zurückhaltend, wenn es um das Offenlegen und Nutzen von neuen Datenquellen geht.
Die Lufthansa griff deshalb für ihr Machine-Learning-Projekt auch auf anonymisierte Flugdaten zurück, die die US-Weltraumbehörde Nasa öffentlich bereitstellt. Amerikanische Großunternehmen wie Honeywell nutzen die Nasa-Daten schon länger und schreiben sogar Wettbewerbe dazu aus: Auf Basis der Daten sollten Interessierte Algorithmen und Anwendungen entwickeln, mit denen sich etwa der Treibstoffverbrauch von Flugzeugen optimieren lässt.
Predictive Diagnostics bei Daimler TSS
Auch der Erfolg eines KI-Projekts bei Daimler TSS hängt von den verfügbaren Trainingsdaten ab. Die Inhouse-Consulting-Tochter des Daimler-Konzerns beschäftigt sich unter anderem mit künstlicher Intelligenz in der Fahrzeugdiagnose. Zwar hat die IT-gestützte Fahrzeugdiagnose beim schwäbischen Automobilbauer schon eine lange Tradition, wie KI-Experte Valentin Zacharias berichtete.
So habe man bereits 2002 damit begonnen, regelbasierte Systeme dafür einzusetzen. Nun aber wolle Daimler mit Hilfe von KI die Fahrzeugdiagnosen noch einmal verbessern, Werkstätten stärker unterstützen und am Ende die Kundenzufriedenheit steigern. Dazu könnten beispielsweise auch Remote-Diagnosen beitragen.
Geht es um die verfügbaren Datenquellen, befindet sich der Konzern in einer komfortablen Lage. Schon seit rund zehn Jahren sammelt er relevante Fahrzeugdaten in einem Data Warehouse. Diese werden nun dazu genutzt, das KI-System zu trainieren. Vor zwei Jahren startete Daimler TSS mit einem Proof of Concept. Mittlerweile ist der Rollout abgeschlossen und das System im Produktiveinsatz.
Es sammelt unter anderem Echtzeitdaten aus den Fahrzeugen, die an die Werkstätten übertragen werden. KI-Algorithmen generieren daraus Arbeitsvorschläge und "Repair Forecasts" für die Techniker vor Ort. So könnte das System beispielsweise anhand von Live-Daten vorschlagen, den Luftfilter auszutauschen.
In solchen Szenarien bringen mehr Daten unterm Strich mehr als verbesserte Algorithmen, resümierte KI-Spezialist Zacharias. Man versuche deshalb, das KI-System mit weiteren Trainingsdaten zu füttern, um noch genauere Diagnosen und Vorhersagen zu generieren.
Chatbots müssen intelligenter werden
Klare wirtschaftliche Ziele verfolgen Unternehmen in der Regel mit der Einführung von Chatbots. Doch nicht immer erfüllen sich die Erwartungen, wie Thorsten Schmidt aus dem Technology Consulting von PricewaterhouseCoopers beobachtet. Chatbots und künstliche Intelligenz sind aus seiner Sicht eng miteinander verwoben. Als typisches Einsatzbeispiel nennt er die Contact Center von Banken.
Die Kundenerwartungen an solche Call Center hätten sich in den vergangenen Jahren stark verändert. So erwarte der typische Bankkunde heute viel mehr Self-Service-Funktionen. Chatbots könnten hier als "virtuelle Agents" helfen, interaktive Self-Service-Zentren einzurichten, im Beraterjargon auch "Interactive Engagement Center" genannt.
Das Problem dabei: Die Bots sind noch nicht intelligent genug. "Das Lernende in den Systemen fehlt noch", urteilt Schmidt. So könnten etliche der heute produktiven Chatbots zwar 30 bis 40 Standardfragen beantworten. Darüber hinausgehende Fähigkeiten suche man aber meist vergebens. Bei den Unternehmen führe das oft zu Enttäuschungen. Schmidt: "Der Markt ist noch in einem frühen Stadium." ,
Der heutige Chatbot müsse erst aufwändig programmiert und mit Regeln, Dialogpfaden und vielem mehr ausgestattet werden. Abhilfe versprächen alternative Ansätze wie etwa wissensbasierte Systeme, die mit Knowledge-Graphen arbeiten. Intelligente Bots könnten damit nicht nur Standardfragen, sondern auch den Sinn gesprochener oder geschriebener Sätze verstehen.
Lessons Learned aus Transformationsprozessen
Dass KI-Technologien für Unternehmen enormes "transformatives" Potenzial bergen, sieht auch Mohak Shah, Vice President AI and Machine Learning bei LG Electronics. Nach seiner Erfahrung scheitern aber viele Transformationsprojekte in der Praxis, ob sie nun KI-Elemente beinhalten oder nicht.
Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört für ihn, dass die digitale Transformation aus einer Business-Sicht heraus getrieben werden müsse. Besonders in Sachen KI gelte die Devise: "Algorithmen sind nicht genug". Ebenso erfolgskritisch seien die "Enabler" im Unternehmen, also die nötige Infrastruktur, Fachwissen und die Integration in vorhandene Systeme und Prozesse. Shah: "Das ist nicht nur eine Übung für kleine, isolierte Teams."
Unabdingbar aus seiner Sicht ist auch eine kohärente Datenstrategie, verbunden mit einer "Data Driven Culture" im Unternehmen. Letzteres sei eine Management-Aufgabe. Für die Führungskräfte bedeute das, Anreize zu setzen und den Mitarbeitern zu demonstrieren, wie intelligente Systeme die tägliche Arbeit verbessern könnten.