Digitale Transformation

Zu dumm für Digitalisierung?

Kommentar  von Stefan Fritz
Bisher konzentrieren wir uns bei der Digitalisierung hierzulande auf Effizienzgewinn. Warum legen wir den Fokus nicht mal auf den Nutzen für die Beteiligten?

Gibt es gute und schlechte Digitalisierung? Haftet Digitalisierung nicht immer etwas Zerstörerisches an? Etwa die zunehmende Beschleunigung durch die ständige Erreichbarkeit über unsere Smartphones oder gar drohenden Jobverlust?

Digitalisierung auf Basis europäischer Werte.
Foto: F. JIMENEZ MECA - shutterstock.com

Für Unternehmer ergibt sich aus der Digitalisierung ein riesiges Chancenpotenzial. Und das nicht, weil sie etwas einsparen, sondern weil sie etwas neu miteinander verbinden, das vorher nicht verbunden war. Dadurch entstehen neue Geschäftsmodelle jenseits des Gestaltungsleitbildes der Effizienz.

Begriffe wie Digitalisierung und neue Geschäftsmodelle assoziieren wir mit den großen US-Playern aus dem Silicon Valley, für die wir so etwas wie eine Hassliebe empfinden. Wir bewundern sie wegen ihrer Idee und ihres Erfolgs, zugleich ist uns aber bewusst, dass sie sich ihren Partnern und Kunden gegenüber nicht fair verhalten. Das stört uns, weil wir es nicht mit unserem Weltbild und unseren europäischen Werten vereinbaren können.

Sind wir in Europa und hier in Deutschland zu dumm, Digitalisierung richtig anzugehen? Und können wir Digitalisierung nicht so nutzen, dass alle etwas davon haben? Kunden, Mitarbeiter, Partner - am besten die ganze Gesellschaft? Vielleicht müssen wir einfach mal die Perspektive wechseln.

Denken in Prozessketten

Wir haben unsere Wirtschaft und viele unserer Innovationen dem Diktat der Effizienz untergeordnet, so auch die Digitalisierung. Seit Beginn der Automatisierung zerlegen wir Arbeitsschritte in immer kleinere Einheiten und optimieren die einzelnen Teilschritte unabhängig voneinander. Das führt zu Beschleunigung und Entfremdung unserer Arbeit.

Ein bekanntes Beispiel ist die Automobilindustrie: Prozesse werden immer besser miteinander verbunden und Zulieferer eng und digital integriert. Deutschland kann also digitalisieren - auf vertikaler Ebene, unter dem Diktat der Effizienzsteigerung.

Unternehmen wie Philips oder Sonos zeigen, wie Digitalisierung anders geht. Die Philips-HUE-Lampen sind mit ZigBee-Funkmodulen ausgestattet. Dadurch können sie in diverse Smarthome-Systeme integriert werden. Egal ob Google Home, Apple Homekit, oder Amazon Alexa: HUE fügt sich als Kettenglied in diese und weitere Smarthome-Systeme ein durch horizontale Vernetzung.

Kettendenker bleiben erfolgreich

Diese Anbieter verstehen sich als Teil einer Ketten-Ökonomie. Sie nutzen offene Schnittstellen und bieten diese auch selber an. Die Produkte lassen sich in Lösungen anderer Anbieter eingliedern und erreichen dadurch mehr Kunden.

Der Käufer wiederum ist bereit, einen höheren Preis für die vernetzte Glühbirne oder den vernetzten Lautsprecher zu zahlen, weil er einen Mehrwert erhält. Denn diese Kettenbildung als horizontale Digitalisierung maximiert den Nutzen für den Verbraucher und nicht die Effizienz bei der Herstellung.
Gleiches gilt für die Home-Automatisierungsdienste IFTTT und Stringify: Horizontale Digitalisierung, also Kettenbildung, verbindet ein Produkt oder Service mit vielen anderen Produkten und Diensten.

Kettenmanagement als Vernetzung jenseits der Effizienzmaximierung müssen wir in Deutschland lernen. Das Denken vom Kundennutzen her ist ein spannender Bereich für Unternehmer, in dem wir viel von den US-amerikanischen Beispielen lernen können, um diese dann mit unseren Wertmaßstäben umzusetzen.

Fairer Umgang mit allen Plattform-Teilnehmern

Jeder kennt die erfolgreichen disruptiven Plattformen wie Amazon, Uber oder AirBnB. Plattformen sind deshalb so effizient, weil sie zwei Märkte miteinander verbinden und Vorteile für beide Seiten schaffen.
Die großen US-Plattformen sind unter ethischen Aspekten jedoch kein gutes Vorbild: Bei Uber etwa werden zugunsten des guten Preises für den Fahrgast die Rechte der Taxifahrer beschnitten.

Unternehmer mit einem europäischen Wertekanon können dagegen aktiv dazu beitragen, faire digitale Plattformen aufzubauen und tun dies auch, wie diese Beispiele zeigen:

Das Startup idagio aus Berlin, ein Streaming-Dienst für Klassikliebhaber, verbindet Künstler und Konsumenten in direkter und fairer Form und sorgt für eine faire Entlohnung der Künstler. Die Konsumenten profitieren von einem breitgefächerten Klassikangebot, bei dem sie sich Werke von unterschiedlichen Interpreten anhören können und Begleitinformationen zu Künstlern und Werken erhalten.

Das Projekt SmartEmma ermöglicht lokalen Einzelhändlern die Teilnahme am E-Commerce. Verbraucher in Aachen können in digitaler Form auf Angebote lokaler Einzelhändler zugreifen und sie in einem Warenkorb zusammenstellen.

Aisler bietet als Online Plattform für Elektronik-Fertigung kreativen Hobby-Lötern und Elektro-Ingenieuren die Möglichkeit, ihre Idee schneller auszuprobieren und umzusetzen. So wird der mühsame Prozess von der Idee zur Umsetzung von vielen Wochen auf wenige Tage reduziert.

Fair-anwortlich Plattformen bauen

Als Unternehmer haben wir es in der Hand, faire Plattformen ohne Werte-Verrat aufzubauen, indem wir uns am Nutzen für alle Beteiligten orientieren. Oberste Prämisse ist dabei der faire Umgang mit allen Partnern auf der Plattform. Ebenfalls wichtig sind Datenschutz als Grundprinzip - Daten werden nicht als Ware oder Bezahlung eingesetzt - sowie der feste Wille zur Kooperation und zur Zusammenarbeit. Eventuell bedeutet das Streben nach fairen Plattformen auch etwas weniger Geld (und damit Einflussnahme) von VC Investoren.

IT-Sicherheit: Menschliche Datenschutz-Fails
Großbritannien: Cabinet Office
In Großbritannien gingen 2008 sicherheitspolitisch brisante Daten bezüglich Al-Qaida und den Irak aufgrund eines menschlichen Fehlers verloren. Ein Angestellter des Cabinet Office, welches direkt dem Premierminister und den Ministers of Cabinet untersteht, muss mit seinen Gedanken schon ganz im Feierabend gewesen sein, als er seine Arbeitsunterlagen in einem Pendelzug liegen ließ. Ein Fahrgast fand den Ordner mit den streng geheimen Dokumenten und übergab diesen der BBC, die ihn wiederum an die Polizei weiterleitete. Obwohl die Tagträumerei gerade noch einmal gut ging, wurde der Beamte daraufhin wegen Fahrlässigkeit suspendiert.
Frankreich: TV5 Monde
Am 8. April 2015 wurde das Programm von TV5 Monde über mehrere Stunden hinweg blockiert, nachdem sich eine dem IS nahestehende Hacker-Gruppe namens „Cyber-Kalifat“ Zugang zu den IT-Systemen verschafft hatte. Nur einen Tag nach der Cyberattacke erlebte der französische TV-Sender ein Datenschutz-Debakel – dieses Mal aufgrund menschlichen Versagens: Reporter David Delos enthüllte während eines Interviews unabsichtlich die Passwörter für Social-Media-Konten des Senders - darunter YouTube, Instagram und Twitter. Diesen waren auf dem Whiteboard hinter dem Pechvogel zu sehen. Auch wichtige Telefonnummern waren zu sehen. Darüber hinaus offenbarte die Wand auch, wie es zum vorangegangenen Hack durch die Islamisten-Hacker kommen konnte: Und zwar in Form des Passwortes für den YouTube-Account von TV5 Monde: "lemotdepassedeyoutube" ( „daspasswortfüryoutube“).
USA: Department of Veterans Affairs
Im Mai 2006 stahl ein Einbrecher den Laptop eines Mitarbeiters des US-Kriegsveteranen-Ministeriums. Dabei wurden ganze 26,5 Millionen Datensätze, die Informationen zu Kriegsveteranen und deren Angehörigen enthielten, entwendet. Der Bestohlene hatte die Daten unerlaubter Weise auf dem Notebook gespeichert, um "von Zuhause aus arbeiten zu können". Dieses menschliche Fehlverhalten wurde darin noch verstärkt, dass die Daten gänzlich unverschlüsselt auf der Festplatte lagen. Einen Monat später tauchte das Device mitsamt den Daten wieder auf - angeblich, ohne Anzeichen einer Kompromittierung. Der entstandene Schaden wurde dennoch auf einen Betrag von 100 bis 500 Millionen Dollar geschätzt. Alleine 20 Millionen Dollar musste das Department of Veteran Affairs in der Folge als Ausgleich an die Geschädigten entrichten.
Norwegen: Steuerbehörde
Im Herbst 2008 hat die norwegische Steuerbehörde Daten zur Einkommenssteuer aller vier Millionen Norweger an Zeitungen und Rundfunkanstalten verschickt. Die Behörde veröffentlicht diese Zahlen jährlich, mit dem Ziel die Bürger zu ehrlichen Steuerzahlern zu "erziehen". Außergewöhnlich ist daran nur, dass in diesem Fall auch die sogenanten Personennummer mitveröffentlicht wurde. Diese besteht aus einer Zahlengruppe und dem Geburtsdatum des Bürgers und wird für gewöhnlich von den Daten abgetrennt, um Anonymität zu gewährleisten. Offiziell ist hierbei nicht von einem menschlichen Fehler die Rede, sondern von einem "Formatierungsproblem".
Belgien: Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen
Die nationale Gesellschaft der Belgischen Eisenbahnen (NBMS) machte Anfang 2013 einen Ordner mit 1,5 Millionen persönlichen Daten ihrer Kunden via Web öffentlich zugänglich. Aus Versehen. Schuld war ein Mitarbeiter, der einen falschen Knopf gedrückt hat. Die Datensätze enthielten Namen sowie Wohn- und E-Mail-Adressen von NMBS-Kunden - darunter auch die von Mitarbeitern und Abgeordneten der EU-Institutionen in Brüssel.

Als starke Verbraucher die digitale Welt aktiv gestalten

Die "Geiz ist geil"-Mentalität beflügelt den Effizienzkampf. Das ist die falsche Richtung für Digitalisierung. Wir Verbraucher entscheiden mit, welche Produkte und Services Unternehmen uns anbieten. Wir können auf Nutzenmaximierung ausgelegte Produkte wie HUE und faire Plattformen wie Aisler, idagio oder SmartEmma unterstützen und be- beziehungsweise entlohnen.

So wie wir bei Textilien bewusst Angebote auf Basis von massiver Ausbeutung boykottieren, haben wir auch in der digitalen Welt eine Wahl. Durch unser Nutzerverhalten beeinflussen und gestalten wir digitale Angebote. Etwa indem wir bereit sind, für (digitale) Services wie sichere E-Mail, Suchmaschinen, Musik, News oder Magazine zu bezahlen.

Wir müssen Google nicht nutzen, wenn wir Herr über unsere privaten Daten bleiben wollen. Denn wenn wir etwas umsonst bekommen, sind wir selber die Ware.

Vielleicht achten wir ja in Zukunft auch etwas bewusster darauf, welche lokalen, deutschen oder europäischen Ideen wir mit unserer Nutzung unterstützen wollen.

Fazit

Wir können in Deutschland mehr, als Digitalisierung zur Effizienzsteigerung einzusetzen. Mit einer klaren Fokussierung auf den Nutzen gelingt der notwendige Perspektivenwechsel. Neue Plattformen und "as a Service"-Geschäftsmodelle in fairer Form helfen, die Potenziale der neuen technologischen Möglichkeiten zu nutzen. Und wenn wir alle als Verbraucher genau solche Konzepte unterstützen, gestalten wir unsere digitale Zukunft fair und menschenwürdig.