Healthcare IT


Rechnungshof übt schwere Kritik

Digitalisierung im Gesundheitswesen wird zum Albtraum

Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Zuckerbrot und Peitsche

Das mittlerweile vom CDU-Politiker Jens Spahn geführte Ministerium will sich den Schwarzen Peter indes nicht zuschieben lassen und reicht ihn gleich weiter. Seit dem E-Health-Gesetz hätten nicht fehlende Entscheidungen der Gematik zu Verzögerungen geführt, sondern verspätete Lieferungen der Industrie, so die Replik des Ministeriums auf den Prüfbericht. Die derzeit praktizierte "Systematik aus Anreizen und Sanktionen" würden bereits die beabsichtigte Wirkung zeigen. Die Selbstverwaltung habe die vom BMG gesetzten Fristen weitgehend "abgearbeitet". Jetzt finde der Rollout statt und alle Beteiligten würden mit den Umsetzungsproblemen der Industrie konfrontiert.

"Es wird Zeit, dass der Gesundheitsminister den chaotischen Prozess nicht weiter dem Selbstlauf überlässt", fordert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete der Linken.
"Es wird Zeit, dass der Gesundheitsminister den chaotischen Prozess nicht weiter dem Selbstlauf überlässt", fordert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete der Linken.
Foto: Gesine Lötzsch Die Linke

Die Opposition geht derweil mit Regierung und Gesundheitsministerium hart ins Gericht. "Die Kosten für die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte sind völlig aus dem Ruder gelaufen", kritisiert Gesine Lötzsch, Bundestagsabgeordnete von "Die Linke". Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, sprach gegenüber der "Ärztezeitung" von einer schallenden Ohrfeige für die Regierung und Minister Jens Spahn. Nun räche sich, dass es seit Jahren keine Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen gebe. "Der Minister redet lieber über die Blockchain statt eine stringente Strategie für die Digitalisierung im Gesundheitswesen vorzulegen."

BER des Gesundheitswesens

Andrew Ullmann, Gesundheitsexperte der FDP und Medizinprofessor, vergleicht die Einführung der eGK und Telematikinfrastruktur mit dem desaströsen Verlauf des Berliner Großflughafen-Projekts. "Nahezu 20 Jahre hat die Politik im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens versagt." Die Gematik wirke eher wie eine mittelmäßige Theateraufführung und nicht wie ein modernes IT-Unternehmen, das Innovation und Datensicherheit zusammenbringen soll, moniert der FDP-Politiker.

Die Bundesregierung habe die Verantwortung großenteils abgegeben. "Dies hatte zur Folge, dass politisch kein Gesundheitsminister von Ulla Schmidt bis hin zu Jens Spahn die Verantwortung für das Scheitern übernehmen musste", kritisiert der Bundestagsabgeordnete. "Wie bei der Berliner Flughafenruine BER ist davon auszugehen, dass die Telematikinfrastruktur und die elektronische Gesundheitskarte längst technisch überholt sein werden, bevor sie richtig funktionieren."

Ullmann fordert daher: "Die Gematik muss aufgelöst werden." Darüber hinaus müsse das Bundesministerium, wenn es die Digitalisierung im Gesundheitswesen ernst nimmt, die weitere Entwicklung in versierte von der Selbstverwaltung unabhängige Hände legen. Vertreter der Patienten und Leistungserbringer sollten dort mitwirken, wo es um Benutzerfreundlichkeit geht. Technische Vorgaben zur Datensicherheit müssten, wie auch kritische Tests, in die Hand von Experten gelegt werden.

Die Entscheidungsstrukturen der Gematik gehören reformiert, sagt Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. "Es braucht mehr politische Steuerung."
Die Entscheidungsstrukturen der Gematik gehören reformiert, sagt Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag. "Es braucht mehr politische Steuerung."
Foto: Maria Klein-Schmeink Die Grünen

Klein-Schmeink von den Grünen plädiert dafür, die Digitalisierung des Gesundheitswesens in die Hand der Patientinnen und Patienten zu legen. Dazu gehöre, die Entscheidungsstrukturen der Gematik zu reformieren und die Patientenperspektive deutlich zu stärken. "Es braucht mehr politische Steuerung, um den Gesundheitsmarkt nicht den "Big Five" zu überlassen und damit die Daten der Patientinnen und Patienten aufs Spiel zu setzen."

Ministerium will Kontrolle über Gematik übernehmen

Tatsächlich scheint man auch im BMG allmählich die Geduld zu verlieren. Mit einem Änderungsantrag zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) will Spahn offenbar die Gesellschafterstrukturen der Gematik tiefgreifend verändern. Das Ministerium plant, selbst mit einem Anteil von 51 Prozent Gesellschafter der Gematik zu werden. Bislang hielt der Spitzenverband Bund der gesetzlichen Krankenkassen 50 Prozent. Die andere Hälfte teilten ärztliche, zahnärztliche und apothekergetragene Interessensverbände unter sich auf.

Beide sollen künftig nur noch jeweils 24,5 Prozent kontrollieren. Darüber hinaus will Spahn die Entscheidungswege beschleunigen. War bis dato eine zwei Drittel-Mehrheit für einen Beschluss erforderlich, soll künftig eine einfache Mehrheit reichen. So will der Minister Tempo machen. Schließlich hat er sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Bis 2021 sollen die Krankenkassen verpflichtet werden, ihren Versicherten eine Elektronische Patientenakte anzubieten.

Für die momentan noch erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit braucht es vielfältige Koalitionen im Gematik-Geflecht.
Für die momentan noch erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit braucht es vielfältige Koalitionen im Gematik-Geflecht.
Foto: Gematik

In den Reihen der bisherigen Gematik-Gesellschafter ist man empört über den Vorstoß des Ministeriums. Ärztevertreter warnten davor, die im Koalitionsvertrag bestätigte Selbstverwaltung im Gesundheitswesen durch einen "staatsdirigistischen Eingriff" auszuhebeln. "Das wäre ein Systembruch, den wir strikt ablehnen", sagte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK).

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