Renitente Infrastruktur

Nicht alle Server kommen in die Cloud

11.03.2013 von Alexander Freimark
Der Wunsch, Server im eigenen Rechenzentrum zu haben, ist groß. Sie ganz in die Cloud auszulagern wird nie gelingen. Über die "Renitenz von Infrastruktur".
Hermann-Josef Lamberti Ex-COO der Deutschen Bank: "Wer lange in der Branche unterwegs ist, weiß, dass Infrastrukturen einen hohen Renitenzgrad haben."
Foto: Deutsche Bank

"Das Weltbild des CIOs wird sich verändern", sagt Hermann-Josef Lamberti, ehemaliger CIO und Chief Operating Officer (COO) der Deutschen Bank. Die Virtualisierung der Infrastruktur führe zu einem Abnabelungseffekt zwischen Mensch und Maschine. Als eine Art "Cloud-Broker" müsse sich der IT-Verantwortliche vornehmlich darum kümmern, "dass alle Dienste homogen und uneingeschränkt zur Verfügung stehen".

Dietmar Wendt, bis zum vorigen Jahr noch Geschäftsführer Sales von T-Systems, dürften diese Aussichten freuen. Der Manager wettete im vergangenen Jahr mit dem CIO-Magazin, "dass die meisten Unternehmen in zehn Jahren keine eigenen Server mehr haben". Das Modell des großen Rechners, der im Keller seinen Dienst verrichtet, gehöre 2021 der Vergangenheit an. Stattdessen würden Firmen Infrastrukturleistungen wie Server, Storage und Hardware einfach über das Netz beziehen und nach Bedarf bezahlen. "Die Infrastruktur", so Wendt, "wird die erste Leistung sein, die wir komplett als Service aus der Wolke nutzen, als Commodity-Leistung wie Strom und Wasser."

Gartner-Analyst und IT-Service-Experte Frank Ridder beurteilt diese Aussagen ein wenig zurückhaltender: "Das Wort 'Wette' könnte gut gegen 'Wunsch' ausgetauscht werden." Seiner Einschätzung nach werde es immer spezifische Anwendungen geben sowie Unternehmen, die nicht alles aus dem Netz beziehen können und wollen: "Als Versicherer muss ich mir lange überlegen, ob ich meine Policen in der Cloud kalkuliere." Die Argumentation, dass die zugrunde liegende Infrastruktur den Inhalt des Services nicht beeinflussen wird, ist Ridder zufolge "stark geprägte Service-Provider-Denke" - der Markt werde sich nicht so schnell wandeln.

Auch wenn zehn Jahre eine relativ lange Zeit in der IT sind: IDC-Analyst Rüdiger Spies hält "klar gegen die Wette". Als Beispiel verweist er auf die Automobilbranche, die bei der Konsolidierung rund 20 Jahre Vorsprung vor der IT habe. Hier sei die Fertigungstiefe reduziert, "aber nicht auf null gefahren worden". Die wirklich wertschöpfenden Faktoren wie das Design, das Branding oder die Integration der Komponenten würden nach wie vor im eigenen Unternehmen gefertigt oder direkt beim Dienstleister beauftragt. Zudem ist Spies überzeugt, dass die Informationstechnologie trotz des Vergleichs mit Strom und Wasser immer noch zu großen Teilen keine Commodity ist. "Und es war selten eine gute Idee, wichtige Differenzierungsmerkmale von außen zu beziehen."

Rund 45 Millionen Server sind heute weltweit in Betrieb - mit leicht steigender Tendenz, schätzt Joseph Reger, Chief Technology Officer bei Fujitsu Technology Solutions. Der Physiker und Informatiker könnte sich sogar mit der Wette anfreunden, selbst wenn er sie "tendenziell für zu plakativ" hält: "Wir sind im Cloud Computing noch in der Phase, in der die Veränderungsgeschwindigkeit überschätzt wird, auch wenn die Richtung unbestritten ist."

Allerdings seien zehn Jahre seiner Meinung nach ein vertretbarer Zeitrahmen, in dem viele große Umwälzungen stattfinden werden, und überdies die alten Anschaffungsmodelle - "Mein Geld steht im Keller" - nicht mehr zeitgemäß. Auch werde es künftig für kleine und mittlere Unternehmen keine guten Argumente dafür geben, eigene Server zu betreiben. Dass die Entwicklung in Richtung Cloud zielt, sei laut Reger programmiert: "Wenn aber in der Wette suggeriert wird, dass die gesamte IT auf dieses Modell hinausläuft, ist mir das zu optimistisch."

Alle wettbewerbsrelevanten Applikationen in die Cloud

Selbst der langjährige IT-Vorstand Lamberti geht davon aus, dass es auch künftig Server geben wird, die nicht in einer Cloud stehen: "Wer lange in der Branche unterwegs ist, weiß, dass Infrastrukturen einen hohen Renitenzgrad haben", sagt der Manager, der heute als eigenständiger Unternehmer im Bereich Cloud-Software aktiv ist. Die eigenen Server hätten weniger mit Sicherheitsbedenken zu tun, zumal er glaube, dass die Cloud genauso sicher sein wird wie das persönliche Rechenzentrum.

"An einigen Stellen im Unternehmen sind jedoch nachlaufende Anwendungen so eng miteinander und mit der Hardware verzahnt, dass sie nicht einfach in die Cloud überführt werden können." Diese würden als typische Legacy-Anwendungen weiterhin im firmeneigenen Rechenzentrum unterhalten, prognostiziert Lamberti: "Alle modernen und wettbewerbsrelevanten Applikationen hingegen werden in der Cloud bereitgestellt."

Dass dadurch die technische Komponente der IT in den Hintergrund gedrängt wird, befürchtet er nicht. "Die Durchdringung mit Technik und die IT-Fokussierung der Unternehmen werden eher zunehmen." Allerdings werde die Technik maskiert sein wie unter der Motorhaube eines modernen Autos, sagt Lamberti. Zwar sei die Technik wesentlich komplexer als vor 40 Jahren, aber es würde auch kaum noch Bedarf geben, die Haube persönlich zu öffnen: "Wenn das Auto mit seinem Hersteller über die Cloud kommuniziert, weiß dieser ohnehin sofort, welche Aufgaben rund um den Motor erledigt werden müssen." Die Integration der allgegenwärtigen IT sei jedoch weiterhin eine technische Herausforderung, "und auch das gehört zur Rolle des CIOs".

Wendts Wette - Die meisten Firmen bald ohne Server

"Ich wette, dass die meisten Unternehmen in zehn Jahren keine eigenen Server mehr haben", schrieb Dietmar Wendt, Geschäftsführer Sales der T-Systems International GmbH, ins CIO-Jahrbuch 2012.

Dietmar Wendt
Foto: T-Systems International GmbH

Mit dieser Wette hat Dietmar Wendt seine Vertriebsorganisation gehörig unter Druck gesetzt. Vermutlich war der Wunsch Vater des Gedankens, dass Server 2022 nicht mehr im Rechenzentrum stehen. Stattdessen, so Wendt, beziehen Firmen Infrastrukturleistungen wie Server, Storage und Hardware einfach als Service über das Netz und bezahlen nach Bedarf: als Commodity-Leistung wie Strom und Wasser. "Das macht die Cloud zu den wenigen wirklich 'disruptiven' Technologien in der IT." Infrastructure-as-a-Service (IaaS) ersetze schon in zehn Jahren unsere bisherigen Geschäftsmodelle und verändere die Nutzungsgewohnheiten und Ansprüche der Kunden.

Die Verlagerung ins Netz würden vor allem wirtschaftliche Rahmenbedingungen beschleunigen, allen voran die Globalisierung: "Der weltweite Wettbewerb hat den Druck auf Firmen erhöht, Kosten zu senken, Produkte schneller auf den Markt zu bringen und immer wieder neue Geschäftsmodelle zu entwickeln", argumentiert Wendt. Und hier sei IaaS ein entscheidendes Instrument. Hinzu komme die Tatsache, dass künftig immer mehr CIOs zu den Digital Natives zählen würden, die wie selbstverständlich mit der Cloud umgehen. Ob dies allerdings ausreicht, um auch die unternehmenskritischen Server großer Unternehmen binnen zehn Jahren komplett in die Cloud zu migrieren, darf bezweifelt werden.

Reger spricht vom Portfolio-Manager

IDC-Zahlen - Immer mehr Server wandern in die Cloud.
Foto: IDC

Statt der Operator-Konsolen für das Rechenzentrum seien künftig Command-Center für die gesamte Cloud des Unternehmens gefragt, in denen unter anderem die transaktionale Kapazität sowie der Sicherheitsstatus abgebildet würden.

Lamberti: "CIOs müssen dort die Datenströme zusammenführen, dass sie jederzeit den Überblick über das Informationsverhalten des Unternehmens mit seiner Umwelt haben." Wo die Server stehen und wem sie gehören, sei in einer virtualisierten Infrastruktur letztlich nebensächlich. "In der Zukunft regeln Sie, welchen Zugriff auf Computing-Power Sie zu welchem Zeitpunkt des Tages haben", sagt das ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Bank.

Ähnlich sieht dies auch Fujitsu-CTO Reger, der den CIO von morgen als eine Art "Portfolio-Manager" beschreibt, der ein Bündel an IT-Leistungen schnürt, um die Geschäftsstrategie zu implementieren. "Dieses Portfolio besteht nicht nur aus verschiedenen Produkten und Technologien, sondern auch aus dem Management der Lieferwege und Betriebsmodelle", sagt Reger. Der Vorteil des Cloud Computings sei, dass es eine feinere Ziselierung erlaube als zuvor das Outsourcing mit seinen "digitalen Entscheidungen".

Heute könnten durch die Vielfalt der Möglichkeiten auch gezielt einzelne Problemfelder angesprochen werden - "Sie gehen mit einem Skalpell um und nicht mehr mit der Axt". Der CIO werde die nicht relevanten IT-Teile auslagern und die kritischen Segmente behalten, so der Server-Experte. "Das ist wie eine 'Triage' durch den Feldarzt von Napoleon - welche Aufgabe bleibt auf jeden Fall im Unternehmen, welche kommt auf jeden Fall in die Cloud, und welche Aufgaben sind noch unentschieden und brauchen daher größte Aufmerksamkeit?"

Der Umzug der Hardware hat nicht nur Folgen für die CIOs, sondern auch für die Maschinen. "Heutzutage sind die meisten Server für den Universalgebrauch gemacht", sagt Fujitsu-CTO Reger. In modernen Mega-Rechenzentren träten jedoch andere Probleme auf als in kleinen Installationen, die durch andere Konzepte der Stromversorgung und Kühlung gelöst werden müssten. "Der Server muss Teil der Facility werden, und dann ist nicht mehr der einzelne Rechner, sondern das gesamte Rechenzentrum entscheidend für den Erfolg." Dennoch, sagt Reger, werde es einen "Restteil an Servern geben, die beim Kunden im Rechenzentrum stehen oder als dedizierte Maschinen beim Provider".

Spies will CRM im eigenen Haus

Frank Ridder Analyst bei Gartner: "Als Versicherer muss ich mir lange überlegen, ob ich meine Policen in der Cloud kalkuliere."
Foto: Gartner

Das klingt nicht wie ein klares Bekenntnis zum firmeneigenen Server im Keller, sondern wie der Fortschritt in der Industrialisierung der IT-Produktion. Auch die Analysten, die sich angesichts der Wette skeptisch äußern, sehen den Weg in die Wolke vorgezeichnet. "Der Anteil der externen Services wird steigen, keine Frage", sagt IDC-Experte Spies. E-Mail, Web, Backup und Archiv - deren Server würden zunehmend aus dem Unternehmen ausziehen.

Wer sich jedoch zu großen Teilen über die IT definiere wie Versicherungen und Banken, werde immer Computer im Keller behalten, sagt Spies: "Und je mehr ich nach außen verlagere, desto größer wird die Bedeutung der IT-Architektur und der integrierten Security-Mechanismen." CRM-Daten und Informationen über die Kundenbeziehungen aus dem Haus geben - das ist für den Analysten in weiten Teilen undenkbar.

Gartner-Experte Ridder setzt auf allmähliche Veränderungen: "Im Sinne dieser Wette haben alle Unternehmen bis 2021 gelernt, den nicht-kritischen vom kritischen Teil der IT zu trennen." Während nicht-kritische Aufgaben zu einer hohen zweistelligen Prozentzahl in die Cloud wechseln würden, treffe dies nur auf rund die Hälfte der kritischen IT zu. In den kommenden Jahren müssten Unternehmen in jedem Fall daran arbeiten, Leistungen aus der Cloud, aus dem Outsourcing und dem eigenen Rechenzentrum mit Private Cloud oder klassischen Servern unter einen Hut zu bringen: "Die kommenden Jahre werden sicherlich die Zeit der hybriden Bereitstellungsmodelle sein", prognostiziert Ridder.

Fazit: T-Systems-Manager Wendt hat recht mit seiner Prognose, dass in den kommenden Jahren sehr viele Server-Maschinen in die Cloud wechseln werden. Rechnet man alle kleinen Unternehmen in die Wette rein, haben 2021 voraussichtlich sogar die meisten Firmen ihre Rechner in der Cloud. Bislang kann sich hingegen kaum jemand vorstellen, dass große Unternehmen mittelfristig alle eigenen Server aufgeben werden.

Die Bindung an die Hardware, maßgeblich bestimmt durch Legacy-Anwendungen und Sicherheitsbedenken, wird dazu führen, dass es komplizierter wird, die IT im Sinne der geschäftlichen Ziele zu mischen. Ob im "Cloud Command Center" (Lamberti), als "Portfolio-Management" (Reger), im "hybriden Modell" (Ridder) oder mit neuem Fokus auf die "IT-Architektur" (Spies) - die Zukunft der IT sieht anders aus. "Statt um Server und Storage wird es darum gehen, geschäftlich relevante Informationen zur richtigen Zeit in der geforderten Qualität mit der passenden Verfügbarkeit bereitzustellen", sagt Gartner-Analyst Ridder. "Da trennt sich die Spreu vom Weizen."