Business Process Outsourcing

Raus mit den Geschäftsprozessen

06.09.2004 von Lars Reppesgaard
Nach dem Betrieb von Netzwerken, Hardware und Anwendungen werden nun auch komplexe Unternehmensfunktionen an Drittfirmen ausgelagert. Richtig konzipiert und laufend überprüft, können solche Deals effizient für Entlastung sorgen. Entscheidungen sollte dabei aber weiterhin nur der Auftraggeber treffen.

"Natürlich haben wir uns vorher gefragt, ob es gut ist, unsere weltweiten Personaldaten aus der Hand zu geben, sagt Herwig Alt. "Aber wir sind gegen Missbrauch vertraglich abgesichert. Außerdem wäre das gesamte Geschäft des Dienstleisters ja ruiniert, wenn da irgendwas passieren würde." Alt ist Personalchef von weltweit 5800 Mitarbeitern von Dräger Medical, einem Hersteller von Produkten für die Notfallmedizin mit Stammsitz in Lübeck. Er hat einen Schritt gewagt, über den in diesen Monaten unzählige Vorstandszirkel intensiv diskutieren: Zusammen mit dem Vorstand entschied er sich dafür, die gesamte Lohn- und Gehaltsabrechnung an den Spezialisten ADP auszulagern. Seit etwa einem Jahr liegen die entsprechenden Daten auf dem zentralen ADP-Server in Paris.

Der Fall ist ein klassisches Beispiel für BPO - Business Process Outsourcing, das vollständige Verlagern von Prozessen an einen externen Dienstleister. Karsten Leclerque, Analyst bei Pierre Audoin Consultants in München, hält das für "eine logische Weiterentwicklung des Outsourcing-Gedankens. Nach der Herausgabe von Hard- und Software kratzt man jetzt an den Geschäftsprozessen." Experten rechnen dabei mit wuchtigen Zuwachsraten: Das Marktforschungsinstitut IDC beispielsweise hat errechnet, dass im vergangenen Jahr weltweit rund 405 Milliarden Dollar für das Business Process Outsourcing ausgegeben wurden, 2008 sollen es bereits 682,5 Milliarden Dollar sein. Das häufigste Motiv dabei ist der Wunsch, die Verwaltungskosten zu senken. Das Auslagern kompletter Geschäftsprozesse ermöglicht dem Kunden aber auch, durch Prozessverbesserungen Qualitätsvorteile zu erzielen. Außerdem führt die Entlastung von Routinefunktionen dazu, dass sich die Verantwortlichen wieder mehr auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren können.

Kosten um 35 Prozent runter

Im Falle der Drägerwerk AG kamen alle drei Vorteile zusammen: Bezogen auf Deutschland, so Personalchef Herwig Alt, hat man durch die Auslagerung die Kosten um 35 Prozent gesenkt. Mit dem eingesparten Geld kaufte Dräger eine HR-Software von Peoplesoft, deren Betrieb ebenfalls ADP übernimmt. Die Plattform bietet eine ganze Reihe von Vorteilen: Durch die Analyse von Fehlzeiten, Einkommen oder der Zahl der Mitarbeiter pro Funktion kann man zum Beispiel Vergleiche zwischen den Ländergesellschaften anstellen. Personalverantwortliche haben die Möglichkeit, den Ausbildungsstand von Mitarbeitern zu analysieren und Defizite eventuell durch gezielte Schulungen auszugleichen. Und Mitarbeiter, denen nach Luftveränderung zumute ist, finden durch die Plattform schnell eine andere Stelle im Unternehmen. Außerdem hat die neue Struktur den Verantwortlichen Freiräume verschafft, die sie mit gezielter strategischer Planung ausfüllen: Anders als früher treffen sich heute die weltweit 17 Personalmanager einmal im Jahr, und in jedem Quartal findet eine Telefonkonferenz statt. Beim Betriebsrat stieß das Auslagern der Gehaltsabrechnung erwartungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Doch weil man allen Betroffenen einen neuen Arbeitsplatz am bisherigen Standort verschaffte, sperrten sich die Personalvertreter schließlich nicht gegen die Maßnahme.

Die meisten BPO-Projekte betreffen derzeit Verwaltungsfunktionen wie das Personalmanagement, und hier erwartet IDC-Analyst Jamie Snowdon auch die größten Zuwachsraten. Der Chiphersteller Infineon zum Beispiel hat die komplette Personalabteilung samt Abrechnung an EDS ausgelagert, die Deutsche Telekom lässt ihre Mitarbeiter durch die eigene Tochter T-Systems bezahlen.

Ein weiteres BPO-Thema: Beschaffung. Die Deutsche Bank lässt ihren Einkauf versuchsweise von Accenture abwickeln. Das Gesamtvolumen wird von Branchenkennern auf sieben Milliarden Euro im Jahr beziffert. Mögliches Einsparvolumen: ein niedriger dreistelliger Millionenbetrag. Auch gibt es bereits Ansätze, Aufgaben des Finanz- und Rechnungswesens, des Kredit- und Risiko-Managements von Fremdfirmen erledigen zu lassen, wie die Berater der Meta Group bemerkten.

Das Auslagern von CRM - etwa der Betrieb von Call-Centern - fällt ebenfalls unter Business Process Outsourcing, auch wenn solche Funktionen schon Externe übernommen haben, lange bevor es die griffige Bezeichnung gab. Ähnliches gilt für die Logistik: Outsourcing ist hier Alltag, aber statt einzelne Funktionen steuern Dienstleister zunehmend komplexe Prozessketten. Beispiel Leica Camera AG: Der Hersteller edler Fototechnik betreibt kein eigenes Vertriebslager mehr. Stattdessen lässt er nicht nur das Lagern von 1200 Artikeln und etwa 18 000 verschiedenen Ersatzteilen von Rhenus erledigen, sondern auch die komplette Abwicklung der Kundenbestellungen einschließlich des Datenaustauschs über Unternehmensgrenzen hinweg und der Kontrolle der Bestände.

Das SAP-System bei Leica in Solms und das Lagerverwaltungssystem des Rhenus-Logistikzentrums I.C.C. in Gießen kommunizieren über die von Rhenus entwickelte "Business Networking Platform". Die internetbasierte Middleware sorgt für die Verarbeitung der unterschiedlichsten Datenformate; dadurch können alle Beteiligten die vorhandenen IT-Strukturen weiter nutzen. Jede Order, die bei Leica eingeht, löst eine Kettenreaktion aus: Verfügbarkeitsprüfung - Auftragsbestätigung - Kommissionierung der entsprechenden Ware. Fremdprodukte, die vor der Auslieferung erst eine Qualitätsprüfung durchlaufen müssen, bucht das System in einen "Qualitätssperrbestand". Sind einige Stichproben gezogen, getestet und freigegeben, wandert die Ware in die Kommissionierung. Der Bereichsleiter Logistik bei Leica, Peter Kurtscheidt, hat ausgerechnet, dass die gewählte Lösung um acht bis zehn Prozent preiswerter ist als der Betrieb einer eigenen Logistik.

Offshore-BPO nicht nur von Billigheimern

Doch nicht nur innerhalb Deutschlands gibt es BPO-Projekte, komplette Geschäftsprozesse werden auch zunehmend in Billiglohnländer transferiert: Während die Marktforscher von Gartner für 2003 einen Offshore-BPO-Umsatz von 1,3 Milliarden Dollar verzeichneten, soll er in diesem Jahr bereits auf drei Milliarden Dollar ansteigen. Und Dienstleister an den exotischen Standorten machen nicht nur als Billigheimer für Einfachjobs von sich reden. Auch aufwändige Prozesse werden kontinentübergreifend betreut. Zum Beispiel von BPO-Profis wie Gerd Marohn. Der Geschäftsführers der Lufthansa-Systems-Niederlassung in Neu Delhi mag "komplexe Aufgaben", wie er sagt. Einfach nur die jährlich 78 Millionen Datensätze für das Lufthansa-Kundenbindungsprogramm Miles & More zu sammeln, einzugeben und gutzuschreiben wäre ihm zu wenig. Zu seiner Freude hat die Lufthansa sein Team auch damit beauftragt, die Informationen qualitativ zu verdichten: In Auswertungen werden Kundengruppen identifiziert und Verbraucher-Cluster gebildet. So entsteht der Treibstoff, mit dem die Marketingabteilung des Mutterunternehmens arbeitet.

Dienstleister verändern die Prozesse

Lufthansa Systems, die international operierende IT-Tochter der größten deutschen Fluglinie, ist schon seit 1992 auf das Auslagern von Geschäftsprozessen spezialisiert. Ihre Leistungen kauft nicht nur die Mutter-Airline ein, sondern auch andere Fluggesellschaften. Zum Beispiel beim "Revenue Accounting": Viele Flüge betreibt die Lufthansa mit ihren Partnern in der Star Alliance gemeinsam. Dabei exakt zu berechnen, welche Fluglinie an welchem Gast wie viel verdienen darf, galt lange als kaum lösbare Aufgabe. Die alten Methoden, mit denen Luftlinien in der Vergangenheit auf dem Papier untereinander abrechneten, hat Lufthansa Systems über Bord geworfen. "Wir bilden Prozesse nicht eins zu eins ab, sondern fragen, was der Kunde erreichen will, und gestalten sie gegebenenfalls neu", so Lufthansa-Systems-Mann Marohn. Heute bekommen die Controller mit Hilfe einer von seinem Unternehmen entwickelten Anwendung namens SIRAX saubere Kennzahlen auf die Bildschirme, seit in Indien mit der Abrechnungslösung unter anderem für Finnair errechnet wird, welcher Anteil des Ticketpreises wem zusteht. Andere Luftfahrtunternehmen wie KLM, British Airways und Singapore Airlines setzen zudem seit Jahren auf die Lufthansa-Systems-Flugstreckenplanung made in India. Marohns Team pflegt dafür eine umfangreiche aeronautische Datenbank, in der aktualisierte Routen- und Wetterdaten zusammengefasst sind.

Doch wie Erfahrungen zeigen, gehen gerade Offshore-BPOs relativ oft schief. Der Finanzdienstleister Lehman Brothers beendete einen Outsourcing-Vertrag mit dem indischen Haus Wipro mit Hinweis auf mangelnde Qualität des IT-Helpdesks. Der Computerhersteller Dell, einer der eifrigsten Nutzer von Offshore-Leistungen unter anderem in Panama, Marokko und in der Slowakei, scheiterte bei der Auslagerung des Kundendienstes für Optiplex-Desktops und Latitude-Notebooks. Hier beriet das zuständige Call-Center in Indien die Kunden so schlecht, dass die Serviceeinheit in die USA zurückverlagert wurde.

Wegen solcher Nachrichten werden geplante Projekte neu überdacht. McDonald's lehnte es zum Beispiel IBM gegenüber ab, de facto aus der Ferne betreut zu werden. Die Fast-Food-Kette beendete im Februar Verhandlungen mit Big Blue über die Auslagerung des Finanz- und Rechnungswesens. "IBM wollte 70 Prozent der Finanz- und Rechnungsbearbeitung in Offshore-Länder auslagern, doch das war uns zu riskant", wird Jerry Calabrese, Leiter der Shared Services Unit bei McDonald's, in den Medien zitiert. Peter Hermann, Deutschland-Chef des internationalen BPO- und IT-Dienstleisters LogicaCMG, wundert das nicht. "Die Entscheider wissen, dass auch ihr Kopf auf dem Spiel steht, wenn ein unvorsichtig ausgewählter Dienstleister Fehler macht", sagt er.

Das gilt auch für BPO-Projekte, bei denen der Service nicht von tropischen Ländern aus geleistet wird. Zwar sind drastische Pannen wie die beschriebenen in Deutschland eher selten, aber wer das Risiko minimieren will, sichert sich auch hier so weit ab wie möglich. Der beschriebene Deal zwischen Leica und Rhenus zum Beispiel hat eine Laufzeit von fünf Jahren, die Hälfte dieser Frist ist mittlerweile verstrichen. "Danach werden wir checken, wo wir stehen", so der Leica-Verantwortliche Peter Kurtscheidt. Die Tarife werden allerdings jedes Jahr neu analysiert. "Dabei kann man aber in so einer langfristigen Partnerschaft niemandem die Pistole auf die Brust setzen. Wenn es zum Beispiel wegen Lohnerhöhungen berechtigte Forderungen des Dienstleisters gibt, dann muss man darüber diskutieren. Und bis jetzt hat das immer reibungslos geklappt." Was natürlich nicht heißt, dass keinerlei Probleme zu lösen waren: Das Rhenus-Logistikzentrum I.C.C. ist ein gigantischer Apparat mit hoch standardisierten Abläufen, deshalb vermisste man bei Leica manchmal individualisierte Lösungen.

Fünf Pakete für einen Kunden

Zum Beispiel wurden teilweise größere wie kleinere Produkte in die gleichen Kartons verpackt, manche Kunden meldeten sich dann und beklagten die Verschwendung. Ein weiteres Problem: Bei fünf Bestellungen für denselben Kunden ließ das System fünf Pakete packen, was nicht zu Irritationen, sondern auch zu höheren Transportkosten führte. Bis Juli sollen die Probleme durch Umstellungen im SAP-System gelöst sein. Kurtscheidt, der mit der Zusammenarbeit bisher sehr zufrieden ist, sagt, ein kleinerer Dienstleister könnte solche Probleme vielleicht individueller lösen. Allerdings war es für Leica wichtig, mit einem großen, etablierten Unternehmen zu arbeiten, dessen Weiterbestehen auch langfristig gesichert ist.

Die Auswahl des richtigen Partners ist generell bei jedem BPO-Projekt der entscheidende Punkt. Nach Ansicht von IDC-Analyst Jamie Snowdon kommt es dabei auf zwei Punkte an: Der Dienstleister muss auch die Prozesse diesseits und jenseits der steuernden IT kennen und beurteilen können. Und er sollte schlicht in allem, was er dabei tut, besser sein als sein Auftraggeber.

Besonders im Bereich des Recruting fällt das den Dienstleistern schwer. "Da stehen wir immer noch ganz am Anfang", sagt PAC-Experte Leclerque. Und nach Ansicht von Herwig Alt, Personalchef der Drägerwerk AG, wird man an diesem Punkt auch so schnell nicht weiterkommen. Alt würde niemals das Personalmanagement und die Suche nach neuen Mitarbeitern outsourcen: "Das hätte keinen Sinn, weil eine Fremdfirma unsere Unternehmenskultur und unsere Strategie niemals so gut verstehen kann wie wir selbst."

Christoph Lixenfeld, Lars Reppesgaard [redaktion@cio.de]