IT-Strategien für das Unternehmen 2009

Weitsicht wagen

05.04.2004 von Andreas Schmitz
Die wirtschaftlich mageren Zeiten haben IT-Entscheider zu Kurzschlussreaktionen verführt. Kurzlebige Quick-Wins dominierten den Alltag, Unternehmen vernachlässigten ihre IT-Strategien. "Nach dem wirtschaftlichen Turnaround revitalisieren Firmen jetzt ihren strategischen Fokus", erkennt Gartner-Analyst Robert Mack. Die Vernunft kehrt in die Unternehmen zurück - und ein wenig Zufriedenheit.

Manchmal ist Rainer Janssens Blick getrübt. Von den Alpen ist dann keine Spur zu sehen, sie verbergen sich in dunstigem Nebel. Das Anfang Februar neu bezogene Büro des CIOs beim Versicherungskonzern Münchener Rück im obersten Stock des höchsten Hochhauses im Münchener Stadtteil Schwabing könnte bei guter Witterung als Aussichtsplattform dienen. Dann scheinen die 50 Kilometer entfernten Gipfel zum Greifen nahe, bis der nächste Nebel aufzieht.

Mit IT-Strategien verhält es sich manchmal ähnlich. Sie sind nicht immer zu sehen und sind doch da. Janßen etwa entwickelte vor sieben Jahre eine globale IT-Strategie für den Rückversicherer aus München. "Strategieentwicklung heißt: Wo will ich hin? Wie komme ich da hin?", sagt der CIO. "Wir hatten zwar die Vorstellung von einer globalen IT und Anwendungslandschaft, doch war die ferne Zukunft ungenauer und ist erst im Laufe der Jahre konkretisiert worden."

Der 50-jährige Mathematiker setzt auf Kontinuität und strahlt Zuversicht aus. Zwar befand sich die Versicherungsbranche in den vergangenen Jahren in wirtschaftlichen Turbulenzen, was zu drastischen Sparprogrammen in der IT führte. "Doch das betraf viel mehr Banken und Erstversicherer als die Rückversicherer, die mit relativ wenigen Mitarbeitern einen hohen Umsatz schaffen", so Janßen. Deshalb sei auch das Thema IT-Kosten mit etwa einem Prozent vom Umsatz nicht so kriegsentscheidend gewesen wie in anderen Branchen. Glück für ihn. Denn er musste seine Strategien nicht einer Kostendirektive völlig unterordnen und lang- und gar mittelfristige Ziele opfern.

Nachhaltige Erfolge: Mangelware

Das ist bei vielen Unternehmen allerdings noch heute die tägliche und existenzgefährdende Praxis. In einer Online-Umfrage von CIO antworteten etwa 40 Prozent der Teilnehmer auf die Frage, wie lang ihre IT-Strategie ausgerichtet sei, mit "Weniger als ein Jahr". Und Analysten des Beratungshauses Gartner konstatieren in ihrem Jahresausblick für das Jahr 2004, dass IT-Entscheider ausschließlich Projekte angehen, die innerhalb von sechs Monaten einen Return on Investment versprechen. "Zwar bringt das kurzfristigen Fortschritt, doch fallen einfache Ziele ganz aus dem Portfolio. Jetzt sollten Unternehmen wieder zu substanziellen Investitionen zurückkehren. Denn nur so lassen sich nachhaltigere Erfolge verbuchen", heißt es in dem Gartner-Papier. Das sieht auch der Berater der Münchener Metagroup Axel Jacobs so: "Nur mit Quick Wins ist der CIO schnell am Ende der Fahnenstange angelangt. Damit kann er sich nicht dauerhaft profilieren; ferner lässt sich so keine nachhaltige IT-Wertposition etablieren." Und Dirk Buchta, Vice President bei der Beratungsgesellschaft A.T. Kearney, setzt noch eins drauf: "Business-bezogene Anwendungen und Projekte wurden nicht mehr verfolgt, es wurden lediglich noch technische Migrationen gemacht - das Mindestmaß erhalten. Der Stellenwert der IT ist dadurch wieder gesunken. Nun herrscht wieder der Mindset: IT ist kompliziert und kostet Geld." Ist das die Praxis oder bloß eine Beraterwahrheit?

Auch wenn Paul Schwefer sich darüber im Klaren ist, dass die IT "einen wesentlichen Beitrag zur Kostenreduzierung (auch der Prozesskosten) leisten kann", stellte der CIO beim Reifen- und Bremsspezialisten Continental riskante und strategische Projekte nach hinten oder strich sie ganz. Eine neue Produktdokumentation für das 64 000-Mann-Unternehmen, die die Abwicklung in der Reifenproduktion verbessern könnte, hätte 100 Millionen Euro gekostet, und die Implementierung hätte fünf Jahre gedauert. Kostenreduktion und Effekt für das Business waren nicht bezifferbar", sagt der Reifen-CIO und stellte das Projekt zurück. "Enterprise Application Integration (EAI) lässt sich bislang nicht rechnen. Also machen wir es nicht." Schwefer strich EAI von der To-do-List.

Dennoch glaubt der IT-Manager, der nach dem Wechsel des Continental-Vorstandschefs im Jahr 2001 eine neue IT-Strategie für das Unternehmen entwickelte, dass er einen "kühlen Kopf bewahrt" und die IT keineswegs an Ansehen verloren hat. "Uns war klar, dass Beraterleistungen um bis zu 40 Prozent günstiger zu bekommen waren als zuvor, insofern haben wir uns in vielen Bereichen antizyklisch verhalten", so Schwefer. Der Kostendruck allerdings sei ständig präsent, da macht sich Schwefer keine Hoffnung: "Die Situation der Entspannung ist nie da."

Der Zeitdruck nimmt zu

Ähnlich ist die Situation bei Kühne & Nagel. Obwohl der Schweizer Logistikkonzern in den vergangenen Jahren stetig Umsatzsteigerungen verbuchen konnte, hat auch dort der Druck zugenommen. "Werden die Lieferscheine nur eine halbe Stunde zu spät entgegengenommen, läutet bei mir das Telefon", sagt Thomas Engel, der seit sieben Jahren CIO im Logistikkonzern ist und seit vier Jahren im Management Board sitzt. Der Zeitdruck in der Branche hat sich erhöht, und der CIO reagiert: "Neue Datenelemente implementieren wir nun in zwei Monaten, nicht in zwei Jahren. Projekte müssen innerhalb von sechs Monaten einen Return on Investment bringen, sonst werden sie gekappt". Das hindert Engel allerdings nicht daran, langfristig zu denken. In allem, was er tut, strahlt der Top-Manager aus dem Konzernhauptsitz Schindellegi nahe des Zürichsees eine gewisse Ruhe aus.

Kühne & Nagel: Architekturen leben zehn Jahre

"Architekturen", so Engel, "leben zehn Jahre." Die Hauptapplikationen bei Kühne & Nagel sind mittlerweile sieben Jahre alt. Eine serviceorientierte modulare Struktur für das Frachtmanagement-System ist bereits in Planung, eine "weiche Form der Migration" dafür vorgesehen (Konzeption bis 2005, Umsetzung bis 2010). Die Strategie, die aus einem Mix aus kurzfristigen und operativen sowie vorausschauenden Zielen besteht, hat Engel also keineswegs über Bord geworfen.

Anders ist die Situation beim Hannoveraner Touristikkonzern TUI. Vor einem Jahr legte Manfred Hirt, im Team von CIO Heinz Kreuzer für die Strategieentwicklung zuständig, ein völlig neues Konzept auf den Tisch. Hatte zuvor jeder der vier Geschäftsbereiche Reisebüro, Veranstalter, Flug und Hotel feste Vorgaben mit unverrückbaren Fristen zu erfüllen, so legt sich die neue Gesamtstrategie in ihrem Integrationsansatz nicht mehr fest. "Taktische Entscheidungen prägen das Business", sagt Hirt, der allerdings mit der IT gerne gegensteuern möchte: "Wir machen taktische Entscheidungen mit, versuchen aber in der IT mit strategischen Entwicklungen einen Gegenpol zu setzen."

Gab es vor fünf Jahren noch einen Fünf- bis Zehn-Jahres-Plan, so gilt heute "schon ein Fünf-Jahres-Plan als ambitioniert", berichtet Hirt. TUI befindet sich noch immer in den Turbulenzen der Krisenjahre und beginnt jetzt, zumindest mit einer neuen IT-Strategie gegenzusteuern. "Wir haben nun einen Leitfaden, an dem sich die IT und die einzelnen Entscheider orientieren", sagt Hirt, der sich nach Konstanten sehnt. Die Zentralisierung der Rechenzentren und Netze beispielsweise, die Implementierung und Weiterentwicklung der Finanz- und der Human-Resources-Systeme - alles Aufgaben, die Hirt strategisch angeht. Buchungssysteme plant die TUI hingegen nicht mehr langfristig. "Flüge und Hotels werden heute per Internet gebucht", so Hirt. Das konnte die TUI nicht absehen. Inzwischen hat das Touristikunternehmen das Geschäftsmodell verändert und an die neuen Erfordernisse angepasst.

Immerhin in einer Loseblattsammlung ist die IT-Strategie der TUI nun manifestiert. "Es gibt Pläne für Projekte, die in den kommenden ein bis zwei Jahren angegangen werden. Die Architektur sehen wir in einem größeren Zeitrahmen von fünf bis sechs Jahren", so Hirt. Eine feste Terminierung gibt es jetzt allerdings nicht mehr. So besteht die Zukunft der Zielarchitektur der TUI aus "vier Bildern". Das erste Bild ist das heutige System, die anderen drei Bilder führen zum Zielsystem hin. Wann das erreicht sein wird? "Das ist nicht entscheidend", sagt Hirt. Viel wichtiger ist ihm, dass "die Strategie lebt und ein bis zwei Mal im Jahr überarbeitet wird". Dann wechselt Hirt ein paar Blätter in der IT-Strategie einfach aus.

Im Jahr 2001: Planlos in die Zukunft

Eine geradezu erschütternde Situation im Umgang mit IT-Strategien fand Gartner unter den Fortune-1000-Unternehmen im Jahr 2001 vor. Die Marktforscher untersuchten die Jahresberichte von 100 zufällig ausgewählten Unternehmen aus dem Krisenjahr 2001 und schauten sich die Langfristigkeit der Planungen und Strategien an. "31 Prozent der Unternehmen planten die Verbesserung ihrer Produkte, 30 Prozent hatten gar keine Strategie, 24 Prozent beabsichtigten Akquisitionen, 22 Prozent wollten ihren Kundenfokus schärfen und 15 Prozent Kosten reduzieren", fasst Analyst Robert Mack zusammen. Kaum ein Wort von der Zukunft.

"Die Amerikaner sind da wie Cowboys: Sie schießen schnell", sagt Mack, "sie haben keine Geduld." Insofern verblüfft dieses Ergebnis den amerikanischen Analysten wenig. Doch jetzt, seit die amerikanische Wirtschaft wieder wächst und der Turnaround geschafft ist, bemerkt Mack: "In den letzten sechs Monaten haben die Unternehmen ihren strategischen Fokus revitalisiert, während sie sich vorher ausschließlich auf Kosten konzentrierten." Dabei unterscheidet der Gartner-Mann zwischen Plänen und Strategien. "Pläne sind nie länger als sechs Monate, Strategien bestehen aus einem Set von Projekten, die drei Jahre in die Zukunft gerichtet sind und sich kontinuierlich verändern können." (Eine neuerliche Studie über den strategischen Fokus in den Fortune-1000-Unternehmen will Gartner Mitte dieses Jahres machen.)

Zeichen für eine Trendwende in Deutschland

Und auch in Deutschland tut sich was. A.T. Kearney-Mann Buchta sieht Zeichen für eine Trendwende in Deutschland: Seit Mitte des vergangenen Jahres rücke die Sicht der Unternehmen weg von der Frage "Wie können Kosten gesenkt werden?" hin zu "Worin können wir wieder investieren?". Auch Metagroup-Berater Jacobs registriert "einen Schwenk zur Langfristigkeit, gepaart mit einer starken Ausrichtung hin zur Unternehmensarchitektur und den damit verbundenen effizienten und effektiven IT-Lösungen.

TUI, gebeutelt durch die geschrumpfte Reiselust der Deutschen und den klammen Geldbeutel der Kunden, hat einen vorsichtigen Schritt in die Zukunft gewagt und geht damit zurück zu den Wurzeln der Managementtheorie. "Wichtig ist, ein klares Bild davon zu entwickeln, wie die eigene Organisation in naher Zukunft aussehen soll, welchen Wertbeitrag sie erbringen, welchen Kundennutzen sie stiften soll", belehrt Winfried Adam, Absolvent der Harvard Business School und Autor des Buches "Der Harvard-Faktor", seine Leser. Zurück zur Vernunft? Doch wie weit sollte das Bild in die Zukunft reichen?

CIO Janßen von der Münchener Rück: "Wir haben für das nächste Jahr einen genauen Plan, im Drei-Jahres-Zeitraum haben wir eine grobe Vorstellung über Projekte, deren Zeitrahmen und Größenordnung. Über diesen Zeithorizont hinaus sehen wir Stoßrichtungen, die immer vager werden." Unternehmen, die ad hoc und ohne jegliche Strategie handeln, könnten in der Infrastruktur leicht völliges Chaos anrichten, sagt Janßen. Da seien dann durch Konsolidierung und Outsourcing hohe Einsparpotenziale möglich. Eine Umfrage von CSC und den Financial Executives International (FEI) unter 607 leitenden Finanzmanagern aus US- und kanadischen Unternehmen bestätigt dies. Wer eine Business-IT-Strategie hat, weist demnach mehr als doppelt so hohe Renditen bei den IT-Projekten auf. Nur zehn Prozent der Befragten ohne Business-IT-Plan gaben hohe Renditen bei IT-Projekten an, hingegen 24 Prozent derjenigen mit IT-Strategie.

Manager muss Veränderungen wahrnehmen

Die jetzt tägliche Strategiepraxis bei der Münchener Rück fußt zudem auf Erfahrungen, die Janßen Anfang der 90er-Jahre beim Softwarekonzern IBM machte. "IBM ist fast pleite gegangen, weil es zu große Strategie-Departments hatte und keine Manager, die noch nach Marktbeobachtung gehandelt haben. IBM hat die Veränderungen in der Welt nicht mehr wahrgenommen", so Janßen. Heute überlässt er eine Strategie nicht ihrem Schicksal, sondern beobachtet Änderungen im Geschäft lieber kontinuierlich, als Zehn-Jahres-Pläne zu schmieden.

Flexibilität ist auch für CIO Engel von Kühne & Nagel wichtig. Zwar hat Engel seine Strategie bis zum Jahr 2007 formuliert, doch ist sie "rollierend und wird jedes Jahr fortgeschrieben". In der Rückschau auf die erste von ihm gemachte globale IT-Strategie von 1997 entdeckt Engel besonders "Anpassungen in den Bereichen Informationssysteme und Ordermanagement-Funktionalitäten. "Spezialdienstleistungen haben weit über unsere Erwartungen hinaus zugenommen", sagt Engel. Deshalb habe man in den Folgejahren weit mehr als ursprünglich vorgesehen in das Order-Management, in Collaboration- und Monitoring-Funktionen investiert. Ungewiss sind derzeit die Entwicklung und der Einsatz der Transpondertechnik RFID: "Kommt die Killerapplikation, werden sich die Transaktionsraten verzehnfachen", ist sich Engel sicher. Der gelernte Betriebswirt und Elektrotechnikingenieur setzt deshalb auf Einfachheit in der IT-Architektur - auf eine serviceorientierte modulare Architektur anstelle komplexer "IT-Gebilde". Das verringert die Reaktionszeit.

Rollierende Planung ist "in"

Durch eine "rollierende Planung alle ein bis zwei Jahre" passt auch Continental-CIO Schwefer seine IT-Struktur neuen Einflussfaktoren entsprechend an: "Die Möglichkeit der Anpassung muss da sein. Steter Wandel muss sich in der Strategie wiederfinden. Einzelne Migrationspfade sind länger als fünf Jahre, allerdings haben wir keine Roadmap bis 2008." Ein IT-Manager aus dem Pharmabereich, der seinen Namen nicht dafür hergibt, formuliert es drastischer: "IT-Strategien sollten nur drei bis fünf Jahre dauern, wir wollen uns doch keine blutige Nase holen."

Rainer Janßen berührt das wenig. Seine Vision für das Jahr 2009? "Dass wir in allen Bereichen weltweit einheitliche Prozesse haben und mit einheitlichen Daten auf einheitlichen Systemen arbeiten. Dass man von jedem Schreibtisch aus mit jedem Kollegen, egal auf welchem Kontinent, gemeinsam an einem Kundenvorgang arbeiten kann." Da arbeitet Janssen hin - und man nimmt ihm ab, dass er das schafft und sein Fernziel Stück für Stück Wirklichkeit wird. Schließlich reißt auch die Dunstwand vor den Alpen immer wieder auf - und gibt den Blick frei auf das imposante Bergmassiv, das Nord- und Südeuropa voneinander trennt. Und das ist mehr als eine Vision.