Problemlösen mit Daten

Der CIO als Dirigent in der Remote-Welt

07.06.2021 von Horst Wildemann
Horst Wildemann wettet, dass datenbasiertes Problemlösen bis 2026 einen Großteil der Methoden zur Produktivitätssteigerung in Unternehmen ausmachen wird.
Horst Wildemann ist Professor an der TU München und Geschäftsführer der Unternehmensberatung TCW. Seiner Meinung nach muss der CIO von morgen die Potenziale aber auch die Grenzen des digitalen Arbeitens verstehen.
Foto: TU München

Nicht nur die Corona-Pandemie machte allen Unternehmen deutlich, dass physische Zusammenarbeitsmodelle in Zukunft stärker von digitalen Kooperationsformen verdrängt werden. Nicht erst seit der Forderung des Bundesarbeitsministers nach gesetzlich verankertem Home Office entwickelt.

Kann es sich der Industriestandort Deutschland leisten, disruptive Geschäftsmodelle vom Esszimmertisch aus zu innovieren? Wie gut digitales und innovatives Arbeiten zusammenpassen können, dürfte viele überraschen. Dennoch sind Produktivität und Innovationskraft keine Selbstläufer. Die CIOs der Zukunft müssen wissen, wie die Leistungsfähigkeit der Organisation auch unter den neuen Bedingungen erhalten und sogar gesteigert werden kann!

In vielen Unternehmen herrschte während der Pandemie erzwungene Isolation, selbst die CEOs schalteten sich aus den heimischen Arbeitszimmern zu. Die Bewertung der Digitalkonzerne, welche die Tools zur Fernkommunikation anbieten, schoss in die Höhe.

Ideen aus dem Home Office?

Das Fazit, das wir nach mehreren Wochen digitalem Arbeiten ziehen konnten, war: Wir haben die Unternehmen am Laufen gehalten. Aber reicht das? Ist es nicht vielmehr unsere Aufgabe, innovative Hochleistung zu vollbringen und disruptive Geschäftsmodelle am Fließband zu entwickeln? Bringen uns verwackelte Videoübertragungen und Verbindungsabbrüche den gleichen Output wie stimulierende Kreativ-Workshops mit agilem Ideen-Sparring in crossfunktionalen Teams? Sind wir Menschen nicht eher auf die ganze Bandbreite der direkten menschlichen Kommunikation angewiesen, wenn wir kreative Höchstleistungen erbringen wollen?

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Die Innovationsjünger aus dem Westen der USA bauen beständig die eigenen Kreativlandschaften in den Konzernzentralen aus, um die Mitarbeiter noch länger vor Ort im kreativen Flow zu halten. Es lohnt sich also, die These zu hinterfragen, ob wertschöpfende Kooperation und die Entwicklung von Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung nur durch Präsenzarbeit erreicht werden können.

Digitale Techniken sind Enabler

Kreativität ist die Grundlage für Produktivität und deren sukzessive Steigerung, seit über 40 Jahren als kontinuierliche Verbesserung bekannt. Durch die Möglichkeiten der Digitalisierung erlebt der kontinuierliche Verbesserungsprozess momentan sogar eine Renaissance. Neue Technologien schaffen die Vorausetzungen, dass Wissen noch schneller, effizienter und standortübergreifend in Organisationen geteilt werden kann.

Innovative Anreizkonzepte jenseits der monetären Belohnung stimulieren Mitarbeiter zum Wettbewerb um die besten Ideen. Künstliche Intelligenz wirkt im gesamten Ideenmanagementprozess als Katalysator, beschleunigt das Herausfiltern und Auswerten aussichtsreicher Ideen und versorgt Ideenmanager mit neuen Aha-Effekten dank Mustererkennung. Was viele nicht wissen: Auch der ursprüngliche kontinuierliche Verbesserungsprozess war - wie das Home Office in Corona-Zeiten - aus der Not geboren.

Kontinuierliche Verbesserung

Die bedeutendsten Impulse für die Industrie ­kamen Anfang der 1980er-Jahre aus Japan. Die Beobachtung: Japanische Autobauer waren mit ihren schlanken Produktionssystemen den westlichen Autobauern in Sachen Produktivität deutlich überlegen. Die Produktivität wurde dabei aus der Not geboren, denn die nach dem Zweiten Weltkrieg in Schieflage geratene Toyota Motor Company hatte den Ingenieur Taiichi Ohno zur Entwicklung eines flexiblen und verschwendungsarmen Produktionssystems veranlasst.

Da das Budget zur Neuanschaffung von Maschinen fehlte, war die Schlussfolgerung eine Konzentration auf die Produktion im Kundentakt mit möglichst geringer Verschwendung jeglicher Art. Das zugrundeliegende Prinzip des kontinuierlichen Verbesserns prägt bis heute das tausendfach kopierte Konzept des Toyota-Produktionssystems.

Heute sind wir einige Schritte weiter, was das Orchestrieren des Ideenpotenzials der Mitarbeiter anbelangt. Wir wissen, dass Ideen am Anfang jeder kontinuierlichen Verbesserung stehen und dass die richtigen Anreize notwendig sind, um das Gold in den Köpfen der Mitarbeiter ­anzuzapfen. Auch wissen wir, dass eine reine Beschränkung auf materielle Vergütung - also extrinsische Anreize - die Erfolgskurve nur bis zu einem gewissen Grad ansteigen lässt.

Intrinsische Anreize

Grundsätzlich gilt: wer etwas mit Begeisterung tut, tut dies um der Sache willen und nicht für den Obolus. Eine Möglichkeit zur Realisierung dieser intrinsischen Anreize bietet die Spielifizierung. Sie beschreibt die Anwendung von Spielen in spielfremden Kontexten und Umgebungen. Die Hypothese ist einleuchtend. Manche Menschen sind im Job nur schwer dazu zu motivieren, sich über das Mindestmaß hinaus zu engagieren - auch beim Ideenmanagement. Dieselben Menschen verbringen zu Hause aber Stunden mit kindlichem Eifer beim gemeinsamen Spiel. Warum also nicht Arbeitsinhalte wie ein Spiel designen und dadurch Mitarbeiter zu neuen Höchstleistungen motivieren? Das ist der Grundgedanke von Gamification, und diese lässt sich ganz wunderbar mit digitalen Kommunikationstechnologien verbinden.

Die Digitalisierung wirkt dabei als Enabler für Innovationsprozesse. Ganz vorn dabei in der neuen Arbeitswelt des Ideenmanagers sind laut Studien: Mobiles Ideenmanagement, künstliche Intelligenz, Big Data und Augmented Reality. Mobiles Ideenmanagement ist der Schlüssel zur Durchdringung aller Lebensbereiche des Mitarbeiters. Über Ideen-Apps ist eine einfache und direkte Teilnahme aller Mitarbeiter am Vorschlagswesen möglich, unabhängig von ihrem jeweiligen Standort und der globalen Verteilung.

Ziel muss sein, Hürden abzubauen und es den Mitarbeiter so einfach wie möglich zu machen, die eigenen Ideen mit Kollegen und in der Community zu teilen. Denn dann steigt die Innovationskraft in Unternehmen sogar durch digitales Arbeiten! Doch nicht nur die Zugänglichkeit zur Ideenabgabe lässt sich durch digitale Lösungen verbessern. Besondere Sprengkraft liegt in der Kombination von Big Data und Machine Learning. Wir alle erzeugen Daten. In unserer Arbeitswelt hinterlassen wir mit jedem Prozess eine digitale Spur. Diese Datenspuren sind mehr als nur Zahlen, denn sie bringen Abweichungen und versteckte Risiken ans Licht.

Produktivität geht auch remote

Der vermeintliche Widerspruch von digitalem Arbeiten und Produktivität lässt sich aber auch aus einem anderen Blickwinkel untersuchen. Ich wage eine Zukunftsprognose: Produktivität geht auch remote! Seit mehr als 30 Jahren sind das Aufspüren von Produktivitätspotenzialen und die Stimulation und Umsetzung von Ideen in Unternehmen auch mein Tagesgeschäft. Das Handwerkzeug hierzu war seit jeher die Präsenzarbeit mit dem Kunden im eigenen Unternehmen. In Workshops und Arbeitskreisen haben wir die interne Erfahrung der Experten im Unternehmen mit unseren Methoden und den Lessons Learned aus anderen Branchen verknüpft.

Die Toolbox enthält dann weiterentwickelte Methoden zur Lösungsfindung, für Change Management, die Kreativarbeit oder ganz simpel - das Aufdecken von Engpässen in einer Supply Chain. Ich glaube, es wird auch in Zukunft so sein. Meine Prognose ist aber: Es kommt ein neues Werkzeug hinzu, und das hat überhaupt nichts mit Präsenzarbeit in Workshops zu tun.

Aus Daten lernen

Es geht um Daten und die Kunst, daraus zu lernen! In den Daten, die Unternehmen ganz automatisch erzeugen, steckt viel Potenzial. Mit den richtigen Tools können darin Muster erkannt werden, welche zu einer Optimierung von Prozessen und der Ressourcenallokation genutzt werden können. Nehmen wir an, ein Unternehmen betreibt 30 Werke, aber nicht alle Werke laufen auf dem gleichen Niveau. Die Qualitäten der Produkte und die Stabilität des Outputs unterscheiden sich meistens.

Wenn es nun das Ziel ist, alle Werke auf das gleiche Level zu hieven, hieß das bisher: Vor-Ort-Audits, Workshops zur Ideenfindung und eine mühsame - da händische - Ursachen-Wirkungs-Analyse. Ich sage nicht, dass das nicht funktioniert. Wenn aber mehr als 150 Einflussfaktoren die Produktqualität bedingen und die Produktionsprogramme in diesen Werken auch noch alle unterschiedlich sind, wird wohl jedem klar, dass die Trennung von wichtigen und unwichtigen Stellschrauben das menschliche Logikverständnis schnell überfordert.

Warum also nicht aus der schieren Flut an Datenpunkten eine Tugend machen? Wenn die Anzahl der Entscheidungsvariablen exponen­tiell zunimmt, können menschliche Logikentscheidungen nämlich ineffizient sein. Die Lösungsstrategie hierzu muss also datenbasiert sein, und das Werkzeug zur Optimierung dieses Problems ist algorithmische Optimierung oder für komplexere Fälle: künstliche Intelligenz und Machine Learning!

Der Vorteil von Algorithmen: Sie können mit endlosen Datenmengen umgehen. Maschinelles Lernen heißt, der Computer hat keine Logik einprogrammiert, sondern er erfasst die Umweltdaten und versucht dann in den Daten bestimmte Muster und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Das Ziel ist, Daten intelligent miteinander zu verknüpfen, Zusammenhänge zu erkennen, Rückschlüsse zu ziehen und Vorhersagen zu treffen - und jetzt kommt's: zunächst mal, ohne die Logik dahinter zu kennen. Für unser Beispiel heißt das, wir Füttern den Rechner mit der gesamten verfügbaren Datenflut, und der Algorithmus beginnt nach Auffälligkeiten und Mustern zu suchen.

Was können wir nun daraus lernen? In einer chaotischen Welt steigt der Wert von Mustererkennung, da einfache Kausalzusammenhänge nicht mehr gelten. Wer also in einer immer kom­plexer werdenden Lieferkette nach neuen Produktivitätspotenzialen sucht, wird um das Lernen aus Daten nicht umhinkommen. Und da die Datenanalyse nicht an die physische Präsenzarbeit in Workshops geknüpft ist, funktioniert das smarte Optimieren von betriebswirtschaftlichen Problemen ganz wunderbar remote.

Menschliches Erfahrungswissen

Wir werden aber trotzdem nicht vollständig auf physische Kontakte oder den Menschen grundsätzlich verzichten. Denn Daten allein sind dumm. Werthaltig wird ein Optimierungsansatz erst, wenn die Datenanalyse mit menschlichem Erfahrungswissen kombiniert wird. Denn dann können daraus die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden. Für unser Fallbeispiel könnte das heißen, sich das eigene Presswerkzeug etwas näher anzusehen - mit menschlichem Scharfsinn und im Workshop. Dann würde man feststellen, dass sich die Abkühlkurve für gute und schlechte Werkzeuge unterscheidet, und eine Maßnahme zur Qualitätssteigerung wäre, mit dem Werkzeughersteller an einer Verbesserung des Wärmeabtrages zu tüfteln.

Unternehmen denken um

Ich persönlich denke, es wird auch nach der Coronakrise zum Umdenken in vielen Unternehmen kommen. Wir können davon ausgehen, dass der Perspektivenwechsel durch die Krise die Entwicklung verschiedener Technologien stimulieren wird. In diesem "New Normal" wird es völlig normal sein, remote zu arbeiten, auch weil wir alle gelernt haben, dass es funktioniert! Ich glaube auch, dass das keine Einschränkung sein wird, denn wir werden alle mehr aus den Daten lernen müssen, um weitere Produktivitätsniveaus zu erklimmen. Und das können wir von überall aus.

Ganz verzichten sollten wir auf die persönliche Zusammenarbeit aber nicht. Der Mensch kommuniziert über so viele verschiedene Wege, und es ist zudem wissenschaftlich abgesichert, dass der Face-to-Face-Ideenaustausch und das direkte Gespräch uns am besten liegen, wenn wir Veränderungen anstoßen wollen. Change Management funktioniert nämlich nur schwer per Webkonferenz. Bevor wir verändern können, müssen wir aber die Zielrichtung kennen. Auf dem Weg dorthin müssen wir Schlussfolgerungen aus Daten ziehen, und das geht auch aus dem Home Office.

Mustererkennung durch Remote Analytics ist in einer hochkomplexen Welt ein scharfes Werk­zeug zur effizienten Entscheidungsfindung. Der Mensch als letztes Quality Gate und als Veränderungsbeschleuniger wird aber auch weiterhin unersetzlich sein. Der CIO der Zukunft muss wissen, wie er die mächtigen Dateninstrumente wertstiftend in eine Organisation aus Menschen einknüpft!

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