Fachkräftemangel

Löst Low Code das Personalproblem der IT?

27.06.2023 von Andreas Gärtner und Kay Wossidlo
Low-Code- und No-Code-Werkzeuge helfen, den Bedarf an IT-Spezialisten zu senken und bestimmte Anwendungen schneller zu entwickeln. Doch es gibt auch Risiken.
Software-Entwicklung aus dem Baukasten: Mit Low-Code- und No-Code-Plattformen können Unternehmen dem Fachkräftemangel in der IT entgegenwirken.
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Die IT-Branche hat ein Problem. Die Auftragsbücher sind voll, es herrscht Goldgräberstimmung, aber es gibt nicht genug Schaufeln. Obwohl ein Großteil der Unternehmen und öffentlichen Institutionen auf ihre Dienste im Bereich Software-Entwicklung angewiesen ist, kann die Branche nur langsam, mitunter sogar gar nicht liefern. Dies gilt sowohl für IT-Dienstleister als auch für die vielen IT-Abteilungen in Anwenderunternehmen.

Es fehlt an erfahrenem Personal für die Entwicklung qualitativ hochwertiger Software. Anbieter von Low-Code- und No-Code-Plattformen, darunter Appian, Mendix, ServiceNow, Pega oder Microsoft Power Platform, versprechen Abhilfe: Mit sogenannten Low-Code- beziehungsweise No-Code-Werkzeugen würden auch Mitarbeiter mit geringen oder gar keinen Programmierfähigkeiten in die Lage versetzt, Apps und andere Programme zu erstellen.

Digitalisierung verstärkt Fachkräftemangel

Mehr Automatisierung und Digitalisierung sorgen für einen immer größer werdenden Personalbedarf. Doch das Angebot an Fachkräften kann mit diesem Wachstum nicht Schritt halten. So sorgt unter anderem der demografische Wandel für einen Arbeitnehmermarkt, in dem IT-Experten eine starke Position haben. Sie können sich ihren Arbeitgeber aussuchen. Ihre teure und zeitintensive Ausbildung sowie die daraus resultierenden Gehaltsvorstellungen können sich aber längst nicht alle Firmen leisten. Das stellt vor allem kleine und mittelständische Betriebe vor Probleme, passendes Personal zu finden und zu halten.

Eine Studie von Eurostat aus dem Jahr 2021 hat die Lücke an qualifiziertem IT-Personal quer durch alle Branchen und Länder für Europa erfasst und beschrieben. 55 Prozent der untersuchten Unternehmen klagten darüber, dass sie Positionen nicht besetzen können. Als Hauptgründe galten: es gibt keine Bewerber oder aber überzogene Gehaltsvorstellungen, gepaart mit mangelnder Erfahrung. In der Konsequenz gingen insbesondere Firmen aus der IT-Branche und Großunternehmen dazu über, das bestehende Personal besser zu schulen und zu befähigen, mit den neuen Erfordernissen Schritt zu halten. Dieser Trend ist ungebrochen, die Herausforderungen bei der Personalbeschaffung steigen Jahr für Jahr an.

Outsourcing-Kapazitäten werden knapper

Auch globale Veränderungen sorgen für Spannungen auf dem Arbeitsmarkt. Während noch vor einigen Jahren das Outsourcing von Software-Entwicklung als probates Mittel zur Beschaffung von Kapazität und auch zur Preisreduktion angesehen wurde, werden auch hier die Kapazitäten immer knapper - insbesondere im europäischen Ausland.

Der Krieg in der Ukraine und die zunehmende Abschottung Chinas verstärken diesen Effekt. Des Weiteren setzt sich in vielen Fällen die Erkenntnis durch, dass die erhofften Effizienzvorteile schwer zu realisieren sind, da sich praktische Probleme manifestieren, die den Projektausgang negativ beeinflussen können. Unterschiedliche Sprachen, Führungsstile, Arbeitskulturen, Zeitzonen oder das Fehlen von Fachkenntnissen sind nur einige der Faktoren, die beim Outsourcing mitgedacht werden müssen und die Beschaffung von Fachkräften erschweren.

Anwendungsarchitekturen werden komplexer

Ein Grund für das schwindende Personal liegt auch in den Arbeitsinhalten. So sind Fachleute, insbesondere aber Quereinsteiger, mitunter überfordert mit der Komplexität im Software-Engineering. Während noch vor zehn bis 15 Jahren größtenteils monolithische und auf einzelnen Applikationsservern betriebene Anwendungen auf Basis von verhältnismäßig einfach begreifbaren Dreischichten-Architekturen dominierten (Frontend, Backend, Datenhaltung), sind aktuelle Anwendungssystem-Architekturen aufgrund der gestiegenen funktionalen und nichtfunktionalen Anforderungen deutlich komplexer.

Eigenschaften wie dynamische Skalierbarkeit, Zero-Downtime und hohe Compliance-, Datenschutz- und Sicherheitsanforderungen machen das Umsetzen von Softwareprojekten deutlich aufwändiger. Lange Projekte, zermürbende Diskussionen und multidimensionale Abhängigkeiten binden Personal und können zudem Frusttreiber bei Mitarbeitern sein. Diese Verflechtungen sorgen für Fluktuation, stören Abläufe und verursachen Spannungen im Arbeitsalltag. Oft übersteigen Investitionen in technische Aspekte und in die Umsetzung nichtfunktionaler Anforderungen den für die eigentliche Fachlichkeit notwendigen Aufwand um ein Mehrfaches.

Softwareentwicklung im Baukastensystem bietet Vorteile

Plattformen, auf denen mit wenig oder gar keinem Code Software gebaut werden kann, versprechen Abhilfe in Sachen Personalmangel. Der Nutzen scheint klar: Werden keine Coding-Kenntnisse benötigt, braucht es auch keine neuen Fachkräfte. Auch bei näherer Betrachtung spricht einiges dafür, dass Low-Code- und No-Code-Plattformen dem Staffing-Problem der IT entgegenwirken. Unter dem Schlagwort "Low-Code/ No-Code" hat sich mittlerweile eine Ausbildung im Format learning by doing etabliert, die rasch Erfolge zeigt.

Das auch, weil der generelle Trend der Industrialisierung der IT, der eher permanent und unbemerkt vonstattengeht, dem Thema in die Hände spielt. Die jüngsten Errungenschaften im Bereich künstliche Intelligenz / Machine Learning sind eine Ausprägung dieses Trends. Microsoft etwa, nicht zuletzt durch seine Partnerschaft mit OpenAI für ChatGPT aktuell einer der Vorreiter in diesem Bereich, bietet Nutzern auf seiner Low-Code Plattform mehr und mehr "intelligente" Programmierunterstützung an.

Citizen Developer in den Fachabteilungen

Mithilfe von Low-Code- und No-Code-Plattformen können also wenig bis gar nicht geschulte Mitarbeiter mit primär fachlichem Hintergrund - sogenannte Citizen-Developer - Software entwickeln. Dank benutzerfreundlicher Oberflächen sind die dargebotenen Funktionen verständlich und leicht zu bedienen. Schon nach kurzer Einarbeitung sind Mitarbeiter selbständig in der Lage, mit den Plattformen zu arbeiten und können schnelle Ergebnisse erzielen.

Das wird auch dadurch unterstützt, dass es bereits fertige Module für die verschiedensten Anwendungsfälle gibt. Abhängig vom jeweiligen Produkt reicht der Baukasten von generischen Komponenten etwa für Formulare über Datenstrukturen, einfache Workflows oder die Anbindung externer Systeme bis hin zu höherwertigen, fachspezifischen Modulen. Beispielsweise lässt sich für das Eingabeformular im Web-Frontend einer Bank auch gleich der Genehmigungsprozess im Backoffice aus Bausteinen mit entwickeln.

Darüber hinaus soll das Nutzen von Low-Code- und No-Code-Plattformen auch den Aufwand und die Kosten im Bereich Governance, Compliance und Security reduzieren, da die entsprechenden Anforderungen bereits durch Funktionen der Plattform abgedeckt werden. Einfache Beispiele sind hier die Themenfelder User Management, Rollen- und Rechtekonzept sowie Mandantenfähigkeit. Entsprechende Fähigkeiten muss eine typische Individualsoftware heute in der Regel aufweisen. Anstatt diese für das Anwendungssystem neu zu konzipieren und umzusetzen, kann man sich bei vielen Low-Code-Plattformen aus dem entsprechenden Baukasten bedienen.

Low Code, aber richtig!

Eine Folge ist, dass sich Mitarbeiten flexibler einsetzen lassen. Beispielsweise können Fachexperten auch im IT-Umfeld arbeiten. Die gesamte Organisation wird agiler und kann schneller auf äußere Einflüsse reagieren. Zudem sinken die Personalkosten insgesamt, weil weniger IT-Experten benötigt werden. Da sich mehr Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Bildungsständen am Software-Engineering beteiligen können, kommt es zu einer Art Demokratisierung und höherer Identifikation, wenn oft auch unterschwellig. In Stoßzeiten oder in zeitkritischen Projekten können auf diesem Weg mehr Mitarbeiter aktiviert werden, die sich der Entwicklung widmen, was wiederum zu einer erhöhten Produktivität der gesamten Organisation führt.

Low-Code-Markt wächst rasant

Diverse Prognosen sehen den Markt für diese Art der Software-Entwicklung per Drag and Drop bis 2030 auf ein Volumen von rund 187 Milliarden US Dollar wachsen. Ausgehend von 10,3 Milliarden im Jahr 2019 sind das enorme Wachstumsraten, die von der betrieblichen Realität bestätigt werden. Die deutlichen Einsparungen bezüglich Entwicklungszeit und Personalkosten sind nicht mehr von der Hand zu weisen.

In Projekten machten Entwickler von Senacor die Erfahrung, dass sich der Herstellungsaufwand einer Lösung um bis zu 44 Prozent reduzieren lässt, wenn er auf einer Low-Code Plattform umgesetzt wird - im Vergleich zu einer reinen Individualentwicklung. Dieser Wert hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab, darunter Lizenzkosten, die genutzten Plattformen und der Anteil der für die Lösung verwendbaren Standardkomponenten.

Ferner ist bei einer Neuentwicklung der erforderliche Ramp-Up im Fall einer Low-Code-Lösung geringer. Damit verkürzt sich die Time-To-Market. Allerdings gibt es auch einige Nachteile. Nur in bestimmten Fällen kann das Potential der Plattformen tatsächlich effektiv genutzt werden. Der Fokus liegt klar auf dem "Typ einfach": viel Standardfunktionen, keine komplexen Algorithmen oder hochindividuelle User Interfaces.

Auch Faktoren, die auf den ersten Blick wie Vorteile erscheinen, sind bei näherem Hinsehen mitunter kritisch zu beurteilen. So können die hinterlegten Regeln hinsichtlich Governance, Security oder Datenschutz von der hiesigen Gesetzeslage abweichen, insbesondere wenn der Plattformanbieter im Ausland sitzt. Des Weiteren kann es sein, dass Branchen oder Kunden besondere Anforderungen an diese Kriterien stellen, die eine Low-Code-Plattform nicht erfüllen kann.

Jeder Anbieter und jedes Tool ist auf bestimmte Use-Cases hin optimiert. Aus diesem Grund sollten Entscheider kritisch hinterfragen, welche Anwendungsfälle perspektivisch auf einer solchen Plattform umgesetzt werden sollen. Diese sind zumindest grob zu analysieren und zu gewichten, um die passende Plattform auszuwählen, ganz konkret und für jeden Anwendungsfall.

Der Einsatz von Low-Code-Tools geht natürlicherweise mit einem gewissen Vendor-Lock-In einher. Die sorgfältige Auswahl des Produkts anhand einer fachlichen Prozessanalyse und geeigneter Use Cases ist essenziell für eine erfolgreiche Nutzung. Allzu oft sehen wir in Organisationen eine Produktauswahl primär anhand technischer und architektureller Kriterien, bestenfalls mit sehr einfachen und nicht geschäftskritischen Anwendungsfällen wie beispielsweise dem Onboarding neuer Mitarbeiter. Eine derart strategische Entscheidung sollte sich aber am strategischen Geschäftsnutzen orientieren und daher komplexere Anwendungsszenarien berücksichtigen.

Fallstricke beim Einsatz von Low Code und No Code

Eine große Gefahr besteht in der Fokussierung auf die initiale Erstellung einer Low-Code Lösung. Die Tools verleiten durch ihre Einfachheit dazu, sich wenig Gedanken über Testbarkeit, den Betrieb und die spätere Wartung und Weiterentwicklung zu machen. In Bezug auf die bereitgestellten Funktionen wie Versionierung, Unterstützung eines Umgebungskonzepts, automatisierte Testbarkeit und Unterstützung eines Application Lifecycle Managements, ergeben sich bei genauerem Hinsehen oft Defizite im Vergleich zu der sehr reifen Werkzeuglandschaft und den etablierten Methoden in der Individualentwicklung von Software.

Eine 44-prozentige Ersparnis mit der Low-Code- / No-Code-Entwicklung kann sich in der Gesamtkostenbetrachtung so schnell wieder verflüchtigen. Auch ist das in diesen Bereichen benötigte Wissen wieder schwerpunktmäßig in den Disziplinen des Software-Engineerings vorhanden, sodass sich die erhoffte Einsparung an Personal weiter reduziert.

Während Low-Code- und No-Code-Tools insbesondere für einfache Anwendungen gut geeignet sind, stoßen sie bei höherer Komplexität oftmals an ihre Grenzen. Je nach Anforderung kann die Implementierung auf Basis eines solchen Produkts schwer bis unmöglich sein. Mitunter müssen Fachexperten zusätzliche Module schreiben, die die Realisierung erst möglich machen, beispielsweise um komplexere Algorithmen umzusetzen oder nicht-triviale Datentransformationen durchzuführen. Auch bei der Anbindung bestehender Systeme oder Schnittstellen kann es erforderlich sein, dass Experten Erweiterungen oder Konnektoren implementieren müssen, um eine Integration zu ermöglichen.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass Low-Code- und No-Code-Plattformen gewichtige Vorteile bringen, und zwar nicht nur, wenn es um die Entwicklung einfacher Anwendungen in unsensiblen Bereichen geht. Notwendig vor Projektstart ist aber eine genaue Bewertung mit Blick auf Testbarkeit, Wartung, Implementierung von Inkubator-Lösungen und Mitarbeiterschulung. In Kombination mit agilen Produktions- und Liefermodellen ist weiteres Potenzial zu erwarten. In großen Digitalisierungs- und Transformationsprojekten mit komplexen Anforderungen hingegen ist die Begleitung durch erfahrene IT-Experten und Business-Analysten notwendig. Nur so können Unternehmen sicherstellen, dass die entstehenden Lösungen den maximalen Nutzen bringen und sich später pflegen und erweitern lassen. (wh)