Herausforderung für CIOs

Die Ära der Software Factory

09.11.2020 von Oliver Viel
Die Software-Entwicklung erreicht in vielen Unternehmen noch nicht das professionelle Niveau, mit dem andere Automatisierungs- und Industrialisierungsvorhaben verfolgt werden. CIOs berichten, wie sie das ändern wollen.
Die Software Factory ist ein konkretes und konstruktives Ziel, das die Missionen vom einzelnen Entwickler, über die IT-Leitung bis hin zur gesamten Wirtschaft in sinnvoller Weise zu einer zielführenden Vision vereinen kann.
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Jeder Konzern muss heute in großem Maßstab Software entwickeln, da deren Beitrag zur Wertschöpfung rasant wächst. Ob als eigenständiges Produkt, eingebettet in Hardware, als Plattform für Transaktionen oder für die interne Organisation - Software entscheidet über den Geschäftserfolg.

In großen Unternehmen aller Branchen ist daher Softwareentwicklung und -wartung längst ein eingeführter Prozess, an dem Hunderte von Entwicklern beteiligt sind. Die Firmenleitungen verantworten also bereits sogenannte Software Factories. Doch eine Fabrik braucht Produkte, Prozesse, Planung, Arbeitsorganisation und Controlling nach ingenieurwissenschaftlichen Maßstäben, wenn sie professionell Ergebnisse liefern soll.

In Sachen "Organizational Excellence" kann die Softwareentwicklung aber oft noch nicht mit anderen Unternehmensbereichen mithalten. Deshalb entwickeln CTOs und CIOs unter Hochdruck Methoden des Digital Engineering, die sicherstellen sollen, dass die hauseigene Software Factory effektiv und sicher produziert.

Professionelle Software-Entwicklung wird erfolgskritisch

Beim Digital Engineering kommt es auf Ingenieurs-Know-how an, ebenso auf strategische Kompetenz. Da die Softwareproduktion in Wechselwirkung zu vielen anderen Unternehmensbereichen steht, müssen Geschäftsführer und Vorstände in der Steuerung der Software Factory eine aktive Rolle spielen. Dies im schnellen Rhythmus des digitalen Weltmarkts zu schaffen, wird zu einem elementaren Erfolgsfaktor für Konzerne aller Branchen.

Auf den weltweiten Märkten sorgt die Digitalisierung für immer kürzere Lebenszyklen von Geschäftsmodellen. Die großen Konzerne haben längst verstanden, dass es kaum noch Bereiche geben wird, in denen sie ohne Software erfolgreich sein können. Xiauqun Clever, ehemalige CTO von ProSiebenSat.1 Media und Chief Technology und Data Officer bei der Ringier AG, hält das Software-Engineering in allen Branchen für eine geschäftskritische Funktion.

Softwarefabriken schießen nach ihren Beobachtungen wie Pilze aus dem Boden, "Phänomene wie der einfache Zugang zu Rechen- und Speicherleistung, die Open Source-Verfügbarkeit von Algorithmen, maschinelles Lernen oder auch der Zugang zu einer Fülle von Cloud-Diensten machen das Insourcing professionellen Software-Engineerings attraktiv." Viele Unternehmen müssten allerdings noch lernen, die Vorteile ihrer Größe und Marktmacht auch im Bereich der Softwareentwicklung auszuspielen.

In der industriellen Vergangenheit gelang vielen Firmen die Skalierung durch eine rigorose Selbstorganisation: Das potenzielle Chaos einer gigantischen Fabrik samt Produktionsstraßen, Lieferketten, Lagerhaltung etc. musste gebändigt werden, um schnelles Wachstum zu ermöglichen. Eine ähnlich komplexe Herausforderung steht nun mit der Softwareentwicklung ins Haus. Es bleibt allerdings weniger Zeit, um hier eine Produktion im Industriemaßstab aufzubauen.

Software wird selten pünktlich und ohne Fehler fertig

Große Softwareprojekte sind eine herausfordernde Aufgabe, an der sich schon so mancher Konzern verhoben hat. Im Gegensatz zu traditionellen Industrieprodukten wird Software selten pünktlich geliefert und ist niemals komplett fehlerfrei. Ein bedenklich hoher Anteil von Softwareprojekten scheitert sogar vollständig. In einem solchen Fall stehen die verantwortlichen Unternehmensleitungen dann oft vor der sprichwörtlichen Black Box: Transparenz und gezielte Einflussnahme scheinen unmöglich.

Die Softwareproduktion ist aber mittlerweile zu bedeutend, um ein Risikofaktor sein zu dürfen. Bernd Rattey, CIO der DB Fernverkehr AG, stellt fest: "IT ist heute für fast jedes Element der Wertschöpfungskette eines Unternehmens ein elementarer Erfolgsfaktor. Dabei muss das Zusammenspiel zwischen den Geschäftsprozessen und der IT an diesen Stellen neu definiert werden."

Die Relevanz von IT wuchs in vielen Unternehmen lange unter dem Radar - vor allem dann, wenn sich die Firmen aufgrund ihrer erfolgreichen Marktposition als unantastbar wähnten. Dirk Ramhorst, CIO von Wacker Chemie, sagt hierzu: "Schon vor knapp zehn Jahren wurde im Silicon Valley der Spruch 'Software eats the World' geprägt. Dieses Bild ist hilfreich, um die aktuellen Herausforderungen zu verstehen. Hier gibt es in Deutschland großen Nachholbedarf, der keinen Halt vor den IT-Abteilungen aller Größenordnungen machen wird."

Es geht um Transparenz und Kontrolle

Den meisten Beteiligten ist mittlerweile klar, dass neue, dem aktuellen Evolutionsstand der Digitalisierung entsprechende Tools und Methoden entwickelt werden müssen, um die größten Pain Points der Softwareproduktion zu lindern. Es geht um die Schaffung einer dauerhaften Effizienz und Sicherheit in der industriellen Softwareherstellung.

Auf dem Weg zur Software Factory ist es besonders wichtig, agile Organisationsformen und Arbeitsabläufe zu skalieren und dabei Transparenz und Kontrolle zu wahren. Professor Christian Bär, Chief Digital Officer (CDO) der Datev, sagt, worauf es aus seiner Sicht ankommt: "Software Factories lassen sich nicht nach altbekannten Mustern mit direktiver Führung, einer strengen Aufbauorganisation oder einem hierarchisch geprägten Arbeitsklima führen. Gerade in der VUCA-Welt gilt: Nur die anpassungsfähigen Organisationen werden überleben." Es brauche ein System, das sich selbst evolutionär weiterentwickeln könne und von vornherein dafür strukturiert sei.

Mehr Erfolg mit Software Process Mining

Agiler Wandel im Großen setzt voraus, dass Entscheider Verantwortung an Mitarbeiter abgeben. Entwicklungsteams lassen sich an der ihnen übertragenen Verantwortung auch messen. Die dafür notwendigen Instrumente liefert Software Analytics mit Schwerpunkten auf Software Process Mining und Software Product Analytics.

Oliver Laitenberger, Partner der Managementberatung Horn & Company, empfiehlt: "Die Chefetage sollte ihre Software-Entwicklung mit Hilfe von Daten objektiv planen und steuern können. Das gilt sowohl für klassische Verfahren als auch für das agile Setting. Insbesondere für den Einsatz von SCRUM oder dem agilen SAFe-Framework fehlt den Entscheidern oft das erforderliche Instrumentarium."

Laut Laitenberger verfügen CIOs oft nur über wenige verlässliche und belastbare Informationen zur kapazitativen Steuerung ihrer Entwicklungsteams. Auch das Verbessern von Softwareprozessen oder das Feststellen inhaltlicher Entwicklungsfortschritte in der Softwareproduktion könne zu häufig nicht genau nachvollzogen werden. Entscheidungen fallen dann auf der Basis einer unzureichenden Datenlage und mit viel Unsicherheit und hohem Risiko.

Wacker Chemie setzt auf SAFe 5.0

Der Wunsch nach Transparenz und Messbarkeit steht in keinem Widerspruch zur Agilität und bedeutet keineswegs die Einführung einer hierarchischen Kontrollkultur. Beide Faktoren gehören vielmehr untrennbar zusammen und müssen sorgsam ausbalanciert werden. Seine Bemühungen um die Verbindung von Agilität mit einer analytischen Betrachtung und organisationaler Transparenz beschreibt Dirk Ramhorst, CIO bei Wacker Chemie, so: "Vor drei Jahren haben wir ein Analytic Services Team etabliert und darin einen Pool von Data Scientists und auch technisches Know-how rund um verschiedene KI- und Analytic-Plattformen zusammengeführt.

Zu diesem Verantwortungsbereich gehört auch die systematische Analyse unserer Geschäftsprozesse auf der Basis von Process Mining und das Modifizieren der identifizierten Prozessschwächen im Bereich unserer Enterprise-Applikationen." Gleichzeitig fördere Wacker Chemie die Kompetenzen seiner Mitarbeiter in der Softwareentwicklung und nutze agile Entwicklungs-Frameworks wie SAFe 5.0.

Ein engagierter Verfechter eines analytischen und selbstreflektierten Digital Engineering ist Professor Jürgen Döllner vom Hasso-Plattner-Institut für Digital Engineering in Potsdam. Döllner beschäftigt sich damit, wie Unternehmen ihre über Jahre gewachsenen Softwaresysteme, aber auch die Software-Produktionsprozesse analysieren und intuitiv nachvollziehbar machen können.

Übersicht im Digital Boardroom

Seine Vision von einem Digital Boardroom für das Software-Engineering geht letztlich auf einen Impuls von Institutsgründer Hasso Plattner zurück. "Natürlich können wir Software nicht genauso produzieren wie Autos", so der Wissenschaftler. "Wir müssen aber von den älteren Ingenieurdisziplinen den Anspruch auf Transparenz und rationale Steuerung übernehmen und mit modernen Mitteln und Methoden auf die agile Softwareproduktion anwenden", sagt Döllner. Die technischen Möglichkeiten dazu gebe es, sie würden aber noch lange nicht ausgeschöpft.

Döllners Aufruf zu einem entschlossenen Digital Engineering trifft viele IT-Verantwortliche in keiner entspannten Situation. Aktuell werden sie von zwei Seiten bedrängt: Einerseits steigt die technische Komplexität in ihrem Aufgabenbereich exponentiell. Andererseits wächst der Druck des Marktes, da Software für den Unternehmenserfolg zu einem entscheidenden Faktor wird. Medien-Managerin Xiaoqun Clever fasst die Situation wie folgt zusammen: "Software ist vom Kosten- zum Gewinn-und-Verlust-Mandat geworden. Es geht nicht länger nur darum, die Rentabilität zu verbessern und schlanker, schneller und flexibler zu werden. Es geht um viel mehr!"

Laut Clever ist Software ein entscheidender Faktor geworden, um sich "durch einzigartige Produktmerkmale, Services und Kundenerlebnisse" vom Wettbewerb zu differenzieren. Software helfe neue Arbeitsweisen umzusetzen, die Partnerschaft in digitalen Ökosystem optimal zu managen und in der entstehenden "Plattformwirtschaft" wettbewerbsfähig zu sein.

Transparenz im Großen wie im Kleinen

Worauf kommt es in der Softwareproduktion also an? Es gilt, die Übersicht zu behalten! Den IT-Führungsteams fehlt es nicht an Tools und Techniken, um einzelne isolierte Expertenbereiche innerhalb des Produktionsprozesses transparent zu machen, doch sich allein darauf zu verlassen, birgt die Gefahr der allgemeinen Unübersichtlichkeit. Um die Zügel in der Hand zu behalten, ist Transparenz auf allen Ebenen wichtig. Dabei ist der Gesamtüberblick zentral, doch es muss die Möglichkeit geben, auch tief in die Details spezifischer Teilbereiche hineinzublicken. Nur so können auftauchende Gefahrensignale in weltweit verteilten Entwicklungsteams bis an ihre Wurzel verfolgt werden.

Zu den Pionieren in Sachen Digital Boardrooms gehört Johannes Bohnet, Gründer von Seerene, dem Anbieter einer solchen Plattform. Das Spin-off des Hasso-Plattner-Instituts hilft Konzernen bei der Einrichtung ihrer individuellen Digital Boardrooms, welche die C-Suite und Teamleiter in die Lage versetzen sollen, auf umfassend erhobene Echtzeit-Daten zuzugreifen. Für Bohnet stehen Agilität und Kontrolle in keinem Kulturkonflikt zueinander: "Der direkte Zugriff auf alle strategierelevanten Informationen sorgt vielmehr dafür, dass der Widerspruch zwischen Culture of Trust und Culture of Control aufgehoben wird. Einzelne Entwicklungsteams können agil und autonom agieren und gleichzeitig wird auf übergeordneter Ebene eine Steuerung, Ausrichtung und Optimierung auf die globalen Konzernziele möglich."

Für Bohnet geht es darum, auch in der Softwareentwicklung die vorhandenen Datenschätze strukturiert zusammenzubringen und für die Gesamtorganisation nutzbar zu machen. Aufgrund der Komplexität brauche es dazu automatisierte Analysetools, insbesondere das "Software Development Process Mining". Mithilfe von Kennzahlen und Meilensteinen könne dann gezielt entlang der übergeordneten Strategie gearbeitet werden.

Mit den Analysetools lässt sich die Performance des Unternehmens darstellen. Als Reaktion darauf lassen sich die KPIs in eine hierarchische Ordnung bringen und zu einem Digital Boardroom verdichten. So können die Verantwortlichen aus der gebotenen Flughöhe den Gesundheitszustand ihrer Software Factory überwachen und bei Handlungsbedarf tiefer einsteigen. Probleme oder Gefahren lassen sich bis ganz hinunter auf die technische Ebene des Sourcecodes und den daran getätigten Änderungen verfolgen.

Auch in der Software-Entwicklung lassen sich Datenspuren auswerten

Die wichtigsten Elemente für eine Software Factory sind also Transparenz, die Offenlegung des Handlungsbedarfs sowie gezielte, detaillierte Analyse- und Eingriffsmöglichkeiten. "Software Analytics-Technologie ist heute in der Lage, die Datenspuren aller Tools und Repositories in der Softwareentwicklungs-Infrastruktur zu extrahieren, zu filtern und zu umfassenden strategierelevanten Auswertungen zu verdichten", erklärt Bohnet. "So kann das technische, aber auch das nicht-technische Management immer informiert und handlungsfähig bleiben."

Soll im Unternehmen ein Digital Boardroom mit allen Konsequenzen eingeführt werden, muss das mit großer Umsicht moderiert werden. Hier werden Informationen zentral gesammelt, das kann bei Mitarbeitern Misstrauen wecken. Ist etwa die Rückkehr zu einer Kultur der Top-down-Kontrolle geplant? Eine Chance besteht darin, die gewonnene Transparenz dazu zu benutzen, den agilen Umbau schneller und entschlossener voranzutreiben.

Obwohl agile Methoden immer stärker um sich greifen, gibt es in fast allen Unternehmen noch Software-Silos, die sich so schnell nicht umstellen lassen. Große Organisationen werden also Strukturen schaffen müssen, die mit Teams gemischter Qualifikation und Motivation arbeiten müssen. Gelingt das nicht, bleibt nur noch die Alternative, die Softwareproduktion auszulagern - verbunden mit den Risiken eines Braindrain.

In manchen Unternehmen ist das schon der Fall, wie Xiaoqun Clever beobachtet: "Leider haben über alle Branche hinweg die meisten Traditionsunternehmen ihre Schwierigkeiten, die hauseigene Softwareentwicklung im großen Stil zu managen oder ihre Softwarelandschaft effektiv und effizient zu betreiben." Oft fehle das geeignete Personal, und auch in Sachen Cybersicherheit entstünden Risiken, die kaum noch beherrschbar seien. "Daher beobachte ich den Trend, dass Professional Service Provider beauftragt werden - sogar für die Entwicklung von Produktinnovationen."

Medienbranche hat zuerst Lehrgeld bezahlt

Sich mit dem Aufbau einer Software Factory zu beschäftigen, ist heute für jedes größere Unternehmen essenziell. "Es ist interessant, wie sich Verantwortliche verschiedener Branchen und Organisationskulturen dem Thema annähern", sagt Jürgen Döllner vom Hasso-Plattner-Institut. "Hier ist ein Erfahrungsaustausch von Führungskräften diverser Backgrounds extrem fruchtbar." Döllner selbst unterstützt den Austausch unter Senior Executives in dem Forum der Digital Engineering Alliance.

Ein Blick auf den Status quo der Software Factories zeigt, dass nicht nur etwa Industriekonzerne, Handelsunternehmen oder Verlage, sondern auch die großen Softwarekonzerne selbst Nachholbedarf haben. Christian Bär von Datev resümiert: "In der Welt der IT-Konzerne gibt es immer noch hierarchisch organisierte Unternehmen, die ihre Strukturen lange nicht angepasst haben, weil sie in der Vergangenheit damit sehr erfolgreich waren. Der Markt entwickelt sich aber schnell, so dass diese Strukturen nicht mehr aktuell sind und eigentlich schon jetzt dringend an die Anforderungen einer VUCA-Welt angepasst werden müssten. Das geschieht leider häufig nicht, zu spät oder nur halbherzig."

Zu den Branchen, die am frühesten und heftigsten von der Digitalisierung verändert wurden, gehört die Medienwelt. Dort sind die Fortschritte besonders augenfällig, der hohe Entwicklungsstand lässt in einigen Aspekten die Zukunft anderer Branchen erahnen. Xiaoqun Clever stellt rückblickend fest, dass die Medienunternehmen zunächst den Schock überwinden mussten, der vom massiven Verlust an Werbeeinnahmen, verursacht von der wachsenden Marktmacht internationaler Plattformen wie Google und Facebook herrührte.

"In diesem Zuge haben die meisten Akteure in der Medienindustrie ihr Portfolio diversifiziert", sagt Clever. "Sowohl regional als auch nach Geschäftsmodellen - letzteres häufig durch Kapitalbeteiligung an digitalen Unternehmen. Man kaufte Online-Geschäfte wie Stellenbörsen, Immobilienseiten, E-Commerce Unternehmen oder andere Websites, die mehr oder weniger mit dem Mediengeschäft verbunden sind."

Diese Entwicklung brachte massive Komplexität in die Konzerngruppen. "Um einen nachhaltigen RoI zu generieren, blieb diesen Unternehmen nichts anderes übrig, als die enorme Menge an anonymem und nicht-anonymem Traffic zu nutzen, um datengetriebenes Up- oder Cross-Selling-Potenzial zu erschließen. Viele haben in dieser Situation angefangen, Registrierungsschranken hochzufahren, übergreifende Datenplattformen zu konstruieren und personalisierte Inhalte anzubieten", bilanziert Clever. Das Rennen im Medienbereich sei noch lange nicht entschieden, die überlebenden Unternehmen müssten in ihren Geschäftsaktivitäten immer wieder über ihren eigenen Schatten springen.

Die Software Factory der Deutschen Bahn

Auch Konzerne, die klassische Produkte oder Dienstleistungen anbieten, betreiben oft schon seit langem Software Factories. Bei der Deutschen Bahn zum Beispiel ist an vielen Stellen Software im Einsatz - eingebettet in Hardware, aber auch im Zusammenhang mit dem Erbringen von Dienstleistungen. Bernd Rattey, CIO der DB Fernverkehr, leitet eine Software Factory, die die verschiedensten Produkte und Services bedienen und dabei die User Journey möglichst perfekt bedienen muss. Beeindruckend ist die schiere Masse an Transaktionen, die von hier aus gelenkt wird.

"In unserer Branche hat die Ingenieurskunst einen hohen Stellenwert", sagt Rattey, "wichtige Assets wie Bahnhöfe, Schienentrassen oder Fahrzeuge werden mit Vorlaufzeiten von fünf bis zehn Jahren gebaut und haben eine Lebensdauer von mehreren Dekaden. Unabhängig vom Alter der Fahrzeuge haben die Fahrgäste einen ständig wachsenden Qualitätsanspruch an die digitalen Services - beispielsweise an eine WLAN-Verbindung bei Tempo 300."

Für die Bahn ist eine Software Factory daher besonders wichtig, doch auch in Unternehmen, die der Laie zunächst als weitgehend softwarefrei einstufen würde, wird das Thema interessant. Dirk Ramhorst von Wacker Chemie stellt etwa fest: "Anders als in Branchen, in denen das Produkt selbst digital aufgewertet werden kann, liegt in der Prozessindustrie der Schwerpunkt der Digitalisierung auf der Produktion und der Schnittstelle zum Kunden. Sie ist also wichtig für das Geschäftsmodell."

KI erlaubt intelligentere Datennutzung

Im Mittelpunkt steht dem Wacker-CIO zufolge ein intelligenter Umgang mit Daten durch entsprechende Analytik inklusive der Nutzung von Methoden und Technologien aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz. Auch wenn es in seiner Branche bereits zahlreiche Leuchtturmprojekte gebe, stünden viele Unternehmen hier doch noch am Anfang.

Allen Branchen ist gemeinsam, dass zwar einiges auf den Weg gebracht wurde, man sich aber keinesfalls sicher fühlen kann und die Herausforderungen riesig bleiben. Für viele Mitarbeitende in Traditionsunternehmen ist das neu: Bislang galten die Großkonzerne als Horte wirtschaftlicher Sicherheit, langsame Planungszyklen wurden als selbstverständlich hingenommen. Diese Zeiten sind vorbei - doch wie stellen sich Konzernverantwortlichen den aktuellen Herausforderungen?

Leider gibt es nicht den einen sicheren Weg, den jeder Konzern einschlagen kann, um Softwareproduktion und -wartung im Sinne eines verlässlichen Digital Engineering und in einer ingenieurwissenschaftlich abgesegneten Software Factory zu organisieren. Wenn man die Prozesse im Detail betrachtet, wird es letztlich so viele Wege geben, wie es Konzerne gibt. Es gibt aber Projekttypen, die in bestimmten Situationen geeignet sind, um konkrete Milestones zu erreichen.

Es folgen drei unterschiedliche Beispiele für erfolgreiche Herangehensweisen, mit denen CIOs einen Konzern in seiner Entwicklung eine Stufe weiterbringen konnten.

Datev vertraut auf ganzheitlichen Projektansatz

Diesen Ansatz, den die Datev verfolgte, umreißt CDO Christian Bär folgendermaßen: "Im Jahr 2018 haben wir uns dazu entschlossen, unsere Strukturen zu überprüfen. Nachdem wir den Status Quo unserer funktional aufgebauten und hierarchisch gestrickten Organisation analysiert und dokumentiert hatten, konzipierten wir ein neues, anpassungsfähiges und flexibles Zielmodell für

unsere Aufbau- und Ablauforganisation, das wir dann Schritt für Schritt umgesetzt haben." Der Datev gelang damit ein vergleichsweise schneller Wandel, der auch schon erste Früchte hervorgebracht hat. "Heute ist diese Organisation seit zirka einem Jahr im Einsatz und hat sich auch in der Corona-Krise bewährt. Dies haben Beispiele wie die Herausforderungen des Kurzarbeitergelds oder des Konjunkturpakets der Bundesregierung gezeigt auf die wir in kürzester Zeit erfolgreich reagieren konnten."

Nach dem Erfolgsrezept gefragt, entgegnet Christian Bär: "Wir haben kein Modell aus der Schublade gezogen, sondern ein individuelles Modell gemeinsam mit unseren Mitarbeitern entwickelt, das ganz den Bedürfnissen unserer Organisation entspricht. Dabei haben wir sehr moderne mit wissenschaftlich abgesicherten und pragmatisch-unternehmerischen Prinzipien kombiniert." Wichtige Ziele seien dabei ein crossfunktionaler Organisationsschnitt, die Trennung von fachlicher und disziplinarischer Verantwortung, der Aufbau schneller und delegierter Entscheidungsstrukturen sowie klare Ende-zu-Ende-Verantwortlichkeiten für die Wertschöpfungseinheiten gewesen.

Abgeschlossene Ökosysteme entwickeln

Bernd Rattey, CIO der DB Fernverkehr AG, zeigt den internen Wandel am Beispiel der sogenannten Komfort-IT, eines eigenen 'Ökosystems'. Dieses umfasst alle digitalen Prozesse und Dienste, die direkt an der Schnittstelle zum Kunden angesiedelt sind, darunter das Kunden-WLAN, die Reservierungsanzeigen, die Infomonitore, aber auch betriebliche Services wie die mobile Kasse des Bordservicepersonals oder verschiedene IoT-Services.

"Für mich zeigt das Beispiel der Komfort-IT unserer Züge, dass klassische Organisationsmodelle für das notwendige Zusammenspiel von Prozessen und IT nicht mehr ausreichen", so Rattey. Während man früher einzelne Komponenten je Baureihe beschafft und verbaut habe, um erst danach einzelne Softwareprodukte zu beschaffen oder zu entwickeln, könne man auf diese Weise dem heutigen Anspruch und der Vielfalt der Themen nicht mehr gerecht werden. "Wir benötigen für das Ökosystem der Komfort-IT heute ein Team, das Baureihe, Hardware und Software in ein Ökosystem integriert und alle Services auf Basis dieser Plattform baureihenübergreifend entwickelt", sagt der CIO.

Bei so komplexen Organisationsstrukturen ist bei der IT-Leitung Fingerspitzengefühl gefragt: Die Mitarbeiter der Komfort-IT arbeiten in den vier funktionalen Bereichen Marketing, Engineering, Instandhaltung und IT. Jeder hat in der Vergangenheit autonom agiert sowie Dienstleister beauftragt und gesteuert. Die Menschen aus den Bereichen haben unterschiedliche Vorgehensmodelle gelernt: Wasserfall, agil, produktorientiert etc. Noch dazu sind sie unterschiedlichen Steuerungsmechanismen unterworfen.

Der von Rattey und seinem Team aktuell pilotierte Ansatz umfasst drei wichtige Elemente: den Aufbau eines übergreifenden Team- beziehungsweise Produktgedankens über alle funktionalen Bereiche hinweg. Darüber hinaus ein am Fahrgast orientiertes Vision-Board zur Grundorientierung und last, but not least eine Produkt-Roadmap, die eine Übersicht über die agilen Entwicklungsstränge des Produkts liefert und auf kleine wahrnehmbare Ergebnisse fokussiert. Auf die besonderen Herausforderungen dieses Projektbeispiels angesprochen, berichtet Rattey: "Wir müssen sicherstellen, dass die notwendige Top-down-Perspektive des Managements mit der agilen Bottom-Up-Perspektive aus den Teams des Ökosystems vereint wird."

Die Produktentwicklung müsse so ins Portfolio integriert werden, dass sie eigenständig im Sinne des Gesamtportfolios agieren könne, ohne zu einem ungesteuerten "Selbstläufer" im Unternehmen zu werden. Das Team umfasst immerhin mehrere hundert Menschen - nur in der Summe der Fähigkeiten wird es seine Ziele erreichen können. "Es wird wichtig sein, mit positiven Erfahrungen in solchen Teams das Vertrauen im Unternehmen für weitere Anwendungsfälle aufzubauen", sagt Rattey.

Digitale Kompetenz in der Breite fördern

Dirk Ramhorst, CIO von Wacker, setzt indes auf kontinuierliche Digitalisierungsanreize für Mitarbeiter, einen Fokus auf den internen Kunden sowie auf Analytics. Der Chemiekonzern betreibt seit drei Jahren das Programm 'Wacker Digital', um die Transformation im Unternehmen systematisch voranzutreiben. In allen Bereichen spielt dabei die Stärkung der Coding Skills eine wichtige Rolle.

In vielen Fällen reichten die bislang genutzten IT-Standardtools nicht mehr aus, um die Anforderungen der internen Kunden zu erfüllen beziehungsweise auf der Basis entsprechender Frameworks Daten auszuwerten. Wacker setzt für die Zukunft besonders auf Analytics und Data Science. Hierzu Dirk Ramhorst: "Die konzernweite Konsolidierung der Data Scientists und die Etablierung korrespondierender Rollen in den operativen Einheiten in Form von sogenannten Business Analysts hat sich über die letzten drei Jahre als Erfolgsmodell erwiesen. Mittlerweile gibt es zahlreiche Erfolgsbeispiele in allen Unternehmensbereichen, in denen der Nutzen und die Möglichkeiten von Advanced Analytics einschließlich KI gezeigt werden konnten."

Die Lehre aus diesen drei erfolgreichen, aber unterschiedlichen Beispielen ist, dass es viele Arten gibt, das Richtige zu tun. Wahrscheinlich sollten Verantwortliche immer verschiedene Ansätze in ausbalancierter Form parallel anwenden. Gerade die Komplexität der Konzernstrukturen, die Unterschiedlichkeit der Kulturen und die Notwendigkeit, viele Menschen mitzunehmen, fordern den Verantwortlichen einiges ab.

Wirkungsvolle Projekte mit ihrer positiven Wirkung helfen, aber am Ende ist es doch die Summe vieler Maßnahmen und Kleinigkeiten, die den großen Tross von Menschen in einem Konzern in Richtung digitale Zukunft bewegt. Am wichtigsten ist hier die Unternehmensleitung, die auf allen Ebenen zum Fortschritt ermuntern und die richtigen Incentives setzen muss.

Ausblick

International stehen viele Konzerne vor der Herausforderung, ihren hohen Entwicklungsstandard und ihre Profitabilität ins digitale Zeitalter zu überführen. Das ist eine riesige Chance, aber beileibe kein sicheres Spiel. Obwohl die Ausgangsposition oft gut ist, wird es nicht leicht, sich in Zukunft auf einem durchdigitalisierten Weltmarkt zu behaupten. Wir haben in Europa exzellent ausgebildete Menschen, eine gute Infrastruktur und eine hochentwickelte Unternehmenslandschaft. Doch gerade für die großen Konzerne wird es nicht leicht, ihre oft riesigen IT-Abteilungen samt ihren IT-Dienstleister-Armeen in agile Software Factories umzuwandeln.

Moderne Organisationsformen und agile Arbeitsorganisation beginnen nach einer anfänglichen Latzenzzeit der Halbherzigkeiten und Lippenbekenntnisse nun wirklich die Realität in den Konzernen zu prägen. Das ist eine gute Nachricht, viele Senior Executives treiben diese Entwicklung voran. Im nächsten Schritt muss nun die analytische, selbstreflektierende Wirkung eines Digital Engineering helfen, Software Engineering zu einer reifen Ingenieurwissenschaft zu machen. Nur so wird es gelingen, die Arbeit eigenverantwortlich arbeitender, agiler Teams durch eine strategische Übersicht und Einflussnahme zu flankieren.

Die Unternehmensleitung wird den agilen, oft autonom agierenden Teams einen unternehmensweit geltenden Bezugsrahmen bieten müssen. Die richtige Mischung aus Transparenz und agiler Spontanität zu finden, den richtigen Ton und Rhythmus, das obliegt nun der C-Suite, zuvörderst den CIOs. Hier geht es aber längst nicht mehr nur um Einzelpersonen, denn das Aufgabenfeld der CIOs ist durch zunehmende Komplexität und Aufgabenvielfalt für eine Person zu groß geworden.

Aufgabe des CIO ist es, generell die Richtung zu weisen und Zielvorstellungen anzubieten. Die Software Factory und ihr methodisches Framework des Digital Engineering sind letztlich kommunikative Angebote, komplexe Zusammenhänge zu interpretieren und eine klare Zielvision bereitzustellen - eine Richtung, der agile Teams in ihrer täglichen Arbeit folgen können. Von dieser kommunikativen Warte aus betrachtet ist die Software Factory ein konkretes und konstruktives Ziel, das die Missionen vom einzelnen Entwickler, über die IT-Leitung bis hin zur gesamten Wirtschaft in sinnvoller Weise zu einer zielführenden Vision vereinen kann. Die C-Suites der digitalisierenden Konzerne sind jetzt aufgerufen diese Vision mit Leben zu füllen!