Healthcare IT


Brandverletzungen

So lindert eine VR-Brille bei Kindern den Schmerz

12.08.2021
Karen Funk ist Senior Editor beim CIO-Magazin und der COMPUTERWOCHE (von Foundry/IDG). Ihre inhaltlichen Schwerpunkte sind IT-Karriere und -Arbeitsmarkt, Führung, digitale Transformation, Diversity und Sustainability. Als Senior Editorial Project Manager leitet sie zudem seit 2007 den renommierten IT-Wettbewerb CIO des Jahres. Funk setzt sich seit vielen Jahren für mehr Frauen in der IT ein. Zusammen mit einer Kollegin hat sie eine COMPUTERWOCHE-Sonderedition zu Frauen in der IT aus der Taufe gehoben, die 2022 zum 6. Mal und mit dem erweiterten Fokus Diversity erschienen ist.
Nichts ist so schmerzhaft wie ein Verbandswechsel bei einer Brandverletzung. Ein Krankenhausteam im westfälischen Hamm nutzt Virtual Reality und Gaming, damit Kinder nicht leiden müssen.
Mit VR und Gaming gegen Schmerzen: Damit hat das EVK Hamm im Zentrum für schwerbrandverletzte Kinder sehr gute Erfahrungen gemacht. Stichwort: Ablenkung. Das Projekt schaffte es in die Finalrunde des Digital Leader Award 2021.
Mit VR und Gaming gegen Schmerzen: Damit hat das EVK Hamm im Zentrum für schwerbrandverletzte Kinder sehr gute Erfahrungen gemacht. Stichwort: Ablenkung. Das Projekt schaffte es in die Finalrunde des Digital Leader Award 2021.
Foto: EVK Hamm

Verletzungen als Folge von Verbrennungen sind häufig mit starken Schmerzen verbunden. Entsprechend traumatisch ist die Behandlung von Brandwunden. Vor allem bei Kindern haben starke Schmerzerlebnisse psychische, aber auch körperliche Folgen. Kliniken sind daher bemüht, bei medizinischen Interventionen die Schmerzerfahrungen zu lindern und gerade für die kleinen PatientinnenPatientinnen und Patienten so angenehm wie möglich zu gestalten. Ablenkung kann hier helfen, etwa via Virtual RealityVirtual Reality (VR) und Gaming, dachten sich ein Kinderchirurg, ein Hochschulprofessor, ein CIO und eine Master-Studentin - und starteten ein Pilotprojekt. Alles zu Virtual Reality auf CIO.de Top-Firmen der Branche Gesundheit

Alles begann damit, dass Dr. Markus Palta sich in Sachen DigitalisierungDigitalisierung weiterbilden wollte: "Mich haben schon immer die vielen kreativen Möglichkeiten in der digitalen Welt interessiert." Der Kinderchirurg am Evangelischen Krankenhaus Hamm (EVK Hamm) erwarb 2019 ein E-Health-Zertifikat an der Hochschule Hamm-Lippstadt (HSHL) und begegnete dort einem anderen kreativen Kopf: Professor Gregor Hohenberg. Palta, damals Oberarzt in der Kinder- und Jugendchirurgie, und Hohenberg, Leiter der Stabsstelle Digitalisierung und Wissensmanagement, hatten die Idee, Virtual Reality (VR) und Gaming in das Behandlungsrepertoire des Zentrums für schwerbrandverletzte Kinder im EVK Hamm aufzunehmen. Alles zu Digitalisierung auf CIO.de

Von VR versprachen sich die beiden Experten viel aufgrund des großen Immersionspotenzials, also der Fähigkeit, das Bewusstsein der Nutzerinnen und Nutzer so weit in den Hintergrund treten zu lassen, dass sie die virtuelle Realität als real empfinden und folglich Schmerzen und Angst nicht mehr wahrnehmen. "Kinder sind Experten im Bereich des Gaming, also wollten wir sie da abholen", sagt Palta. Ausreichende Linderung von Schmerzen durch maximale Ablenkung war das Ziel.

Das VR-Projekt-Team

Während es in den USA bereits einige Studien zu dem Thema gab, waren sowohl die Studienlage als auch der VR-Einsatz in der Praxis hierzulande noch mau. "Die Behandlung Schwerbrandverletzter mittels VR zur Linderung von Schmerzen und Angsterleben kannten wir vor allem aus der amerikanischen Literatur", so Palta. Der Mediziner und Hohenberg wollten eine möglichst umfassende und ganzheitliche Therapie entwickeln und beschlossen, ein entsprechendes Praxisprojekt am EVK Hamm im Rahmen einer Master-Arbeit zu starten.

Bastian Stockhausen, CIO am EVK Hamm, sorgte für die IT-seitige Unterstützung des Pilotprojekts.
Bastian Stockhausen, CIO am EVK Hamm, sorgte für die IT-seitige Unterstützung des Pilotprojekts.
Foto: EVK Hamm

Für die IT-seitige Umsetzung des Projekts kam Bastian Stockhausen mit an Bord. Der IT-Bereichsleiter des EVK Hamm hatte bereits in der Vergangenheit an anderen digitalen Projekten eng mit Palta zusammengearbeitet. Vierte im Bunde wurde Annalena Stolte, Studentin des Master-Studiengangs "Biomedizinisches Management und Marketing" an der HSHL, die im Rahmen ihrer Masterarbeit das Projekt federführend ausführte.

Oculus go und Smash hit

Eine Herausforderung war es zunächst, die richtige Kombination aus Hardware und Software zu finden, so Stockhausen. Hilfreich war dabei das VR-Labor der HSHL, wo das Team ein großes Spektrum an VR-Brillen ausprobieren konnte. Das Rennen machte schließlich die Stand-alone-VR-Brille "Oculus go", da sie sich ohne Kabel verwenden sowie leicht reinigen und desinfizieren lässt. Die Spielentscheidung fiel auf die Freeware "Smash hit", weil hier der Spaßfaktor groß ist und genug Interaktion verlangt wird, dass es nicht langweilig wird und die Ablenkung funktioniert. In diesem Spiel werden Schneebälle auf Pyramiden geworfen. "Die Eislandschaft wirkt kühlend für die Kinder", erklärt Palta einen weiteren Vorteil des Spiels.

Ablenkung durch Immersion: Während Kinderchirurg Markus Palta (Mitte) den Verband wechselt, spielt die verletzte Patientin via Oculus go und Controller das Spiel "Smash hit".
Ablenkung durch Immersion: Während Kinderchirurg Markus Palta (Mitte) den Verband wechselt, spielt die verletzte Patientin via Oculus go und Controller das Spiel "Smash hit".
Foto: EVK Hamm

Zudem galt es, einen Behandlungsplan zu erstellen, das Personal in Bezug auf den VR- und Gaming-Einsatz einzuweisen und eine geeignete Fokusgruppe zu bilden: acht Kinder im Alter von neun bis 17 Jahren mit Brand- und Bruchverletzungen. Auch die Eltern der verletzten Kinder mussten aufgeklärt und involviert werden.

Reduzierte Medikamentengabe, weniger Schmerzen

Im August 2020 war es dann so weit: Masterstudentin Stolte konnte mit ihrem Feldversuch beginnen. Im Februar 2021 kam das VR-Projekt mit überzeugenden Ergebnissen zum Abschluss: Die Patientinnen und Patienten empfanden die Verbandswechsel als deutlich weniger schmerzhaft, wie Schmerzskalen belegen, und benötigten weniger medikamentöse Therapie. Die Kinder verknüpften diese Interventionen nun sogar mit positiven Assoziationen.

Annalena Stolte (rechts) war am VR-Pilotprojekt im Rahmen ihrer Master-Arbeit maßgeblich beteiligt.
Annalena Stolte (rechts) war am VR-Pilotprojekt im Rahmen ihrer Master-Arbeit maßgeblich beteiligt.
Foto: EVK Hamm

"Durch die Bank dachten alle Kinder, dass die Behandlung wesentlich kürzer als in der Realität gedauert hat", fügt Palta hinzu. Das sei die größte Überraschung und das Hauptergebnis der Studie gewesen, betont er. Auch hätten die Kinder weniger Angst vor Folgebehandlungen gehabt und freuten sich auf die Möglichkeit, erneut die VR-Brille nutzen zu können. Nicht zu vernachlässigen seien ferner die positiven Erfahrungen des Personals sowie der Eltern: Gerade letztere hätten sich hoch zufrieden und dankbar gezeigt.

So kurzweilig die Kinder die Behandlung empfanden, so viel Zeit und Personalaufwand musste auf der anderen Seite in die Vorbereitung gesteckt werden. Palta betont, wie wichtig die Einweisung des Personals sowie ein behutsames und geräuschloses Agieren im Krankenzimmer sind, damit die Immersion nicht gestört wird. "Neben der 3D-Brille, die das Kind aufhat, stellen wir einen zusätzlichen Bildschirm bereit, damit das Pflegepersonal weiß, an welcher Stelle des Spiels der Patient oder die Patientin ist", erklärt Stockhausen. So können Eingriffe an den Spielverlauf angepasst werden.

Auch wenn Personalaufwand und Behandlungsdauer erhöht sind, lohnt sich der VR-Ansatz, sind alle Beteiligten überzeugt. Die Erfahrungen und Eindrücke des medizinischen Personals und der Erziehungsberechtigten seien durchgehend positiv gewesen, bestätigt auch Stolte. Ihr Eindruck: "Die Kinder haben durch das Spielen weniger von der Behandlung wahrgenommen und sind viel positiver aus der Behandlung rausgekommen. Auch die Gabe von Schmerzmitteln konnten wir reduzieren."

Digitalisierung zum Anfassen

"Das ist Digitalisierung zum Anfassen", freut sich CIO Stockhausen. Ihm und Palta war es wichtig, etwas Greifbares zu schaffen mit einem konkreten Nutzen. In der Vergangenheit haben die beiden bereits bei Projekten erfolgreich zusammengearbeitet, darunter eine Telemedizinlösung zur digitalen Harnflussmessung und die Einführung der Videosprechstunde. Sie können eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen ITIT und Medizin nur empfehlen. Palta rät: "Probiert Sachen aus, geht neue Wege und fangt einfach mal an - natürlich immer zum Nutzen der Betroffenen." Alles zu Healthcare IT auf CIO.de

Das Thema VR in der Schmerzbehandlung soll am EVK Hamm künftig weiter ausgebaut werden, etwa in der Anästhesie und in der Erwachsenenbehandlung. Auch in Kombination mit 3D-Druck3D-Druck gibt es Ansätze, die Stockhausen und Kolleginnen und Kollegen verfolgen: Als Lehrkrankenhaus ist es wichtig, dass angehende Ärztinnen und Ärzte komplexe Sachverhalte verstehen. Was kann da helfen? Die Antwort: Mittels einer Software MRT- und CT-Bilder so umzuwandeln, dass der 3D-Drucker sie als freigestellte Modelle von Knochen, Geweben und Organen ausspucken kann. Die plastischen Modelle helfen zudem bei der Aufklärung von Patientinnen und Patienten. Auch zum Thema VR in der Behandlung bei schwerbrandverletzen Kindern wird eine weitere Masterarbeit das bereits erfolgreich Umgesetzte weiter ausbauen und vertiefen. Alles zu 3D-Druck auf CIO.de

Die Digitalisierung hat auch den Mediziner Markus Palta nicht mehr losgelassen und wird ihn künftig auch in seiner neuen Arbeitsstelle beschäftigen: Der Kinderchirurg hat unlängst den Job gewechselt und ist inzwischen Medizinaldezernent der Bezirksregierung Arnsberg.

Annalena Stolte hat ihre Masterarbeit erfolgreich abgeschlossen und arbeitet heute als Projektingenieurin für Medizintechnikplanung bei der Gesellschaft für Krankenhausberatung.

Digital Leader Award 2021

Ihr VR- und Gaming-Projekt haben Palta, Stockhausen und Co. im Übrigen beim Wettbewerb "Digital Leader Award 2021" der IT-Fachpublikation COMPUTERWOCHE eingereicht und es bis in die Finalrunde geschafft. Ob es auch zu einem Platz auf dem Siegertreppchen reicht, wird am 30. Juni 2021 ab 17:00 Uhr auf der Winners' Night verraten. Am Tag darauf erzählen die Finalisten dann im Rahmen der Konferenz "Digital Leader Connect" noch einmal selbst von ihren Projekten (ab 8:30 Uhr). Zu beiden Events können sich Interessierte gerne kostenfrei anmelden: www.digital-leader-award.de

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