Fachkräftemangel

Personalstrategien im Reality-Check

Anna Wiesinger ist Partnerin im Düsseldorfer Büro von McKinsey und Expertin für Digitalisierungsprozesse und Transformationsmanagement, die Entwicklung des Arbeitsmarkts sowie Reskilling.

Unternehmen müssen sowohl das Recruiting als auch den Arbeitsalltag an den Bedürfnissen von Tech-Talenten ausrichten. Dabei ist auch der CIO gefordert.
Viele Unternehmen halten in der Personal-Rekrutierung an veralteten Strategien fest. CIOs können zu einem Umdenken beitragen.
Viele Unternehmen halten in der Personal-Rekrutierung an veralteten Strategien fest. CIOs können zu einem Umdenken beitragen.
Foto: Gorodenkoff - shutterstock.com

Die gute Nachricht: Die Herausforderung ist klar erkennbar. Viele Unternehmen in Deutschland haben ambitionierte Wachstums- und Digitalisierungsziele definiert, was den Zugang zu entsprechenden Talenten zum Schlüsselfaktor für wirtschaftlichen Erfolg macht. Die weniger gute: Die Konkurrenz ist enorm. Der Bedarf an Tech-Talenten übertrifft das Angebot um das Vielfache - allein bis 2026 werden in Deutschland laut dem Stifterverband 780.000 Experten fehlen. Die Personalstrategie zu verbessern, wird damit zur wertvollsten Maßnahme, die Unternehmen treffen können. Warum wird das Thema dann aber oftmals nur unzureichend priorisiert?

Bedürfnisse der IT-Talente hervorheben

Obwohl ihre Zukunft davon abhängt, haben viele Organisationen in der Personal-Rekrutierung an veralteten Prozessen und Erfahrungswerten festgehalten. Was es braucht, ist eine umfassende Neuausrichtung. Sowohl das RecruitingRecruiting als auch der darauffolgende Arbeitsalltag und die Entwicklungsmöglichkeiten müssen klar an den Bedürfnissen der Tech-Talente ausgerichtet werden, und nicht umgekehrt. Ein großer Schritt? Ja, aber ein nötiger - und einer, bei dem CIOs eine zentrale Rolle einnehmen. Sie haben den Finger am Puls der internen Digitalisierungsinitiativen und kennen die Bedürfnisse - und die Lücken an Fachkräften und Fähigkeiten - am besten. Sie können die Entwicklung damit aktiv gestalten. Alles zu Recruiting auf CIO.de

Viel Geld gibt es für Tech-Experten überall

Der Wettbewerb um Tech-Experten mit dem für die Zukunft so nötigen Know-how ist schon lange im vollen Gange. Und er wird mit harten Bandagen geführt. Denn es reicht nicht, Talente zu identifizieren. Sie müssen an Bord geholt werden, und sie müssen bleiben, wenn sie einmal da sind. Eines ist dabei sicher: Ein gutes Gehalt ist kein ausreichender Faktor mehr, um rare Tech-Talente zu gewinnen oder zu halten. Viel Geld bekommen sie überall. Stattdessen wollen die IT-Experten Möglichkeiten, ihr Potenzial in ambitionierten Teams bei fordernden Aufgaben auszuschöpfen und sich weiterzuentwickeln. Hier kommen CIOs ins Spiel, die in enger Zusammenarbeit mit CEO und CHRO auf genau dieses attraktive Umfeld hinwirken können.

Weniger Bürokratie, mehr Flexibilität und Diversität

Konkret bedeutet das etwa, dass sich eine zukunftsweisende Personalstrategie im Tech-Bereich von Bürokratie und starren Strukturen verabschieden muss. Tech-Talente haben kein Interesse an und kein Verständnis für hierarchische Entscheidungswege, veraltete Zusammenarbeitsmodelle, komplexe Reporting-Strukturen oder andere Irritationen. Sie müssen sich damit auch nicht abfinden - sie können einfach woanders hingehen.

Wichtig sind auch flexible Karrierewege. Statt eine typische Entwicklung von operativen Positionen zu Management-Rollen voranzutreiben, sollten Unternehmen dringend Alternativen schaffen. Viele Tech-Talente haben kein Interesse an Team-Führung, Personalentscheidungen und anderen Management-Aufgaben. Stattdessen wollen sie lieber ihre operative Expertise ausbauen, komplexe Probleme lösen und Verantwortung für ein technisches Produkt übernehmen.

Auch Diversität und Inklusion sollten konsequent in alle Bereiche des Unternehmens integriert werden. Potenzielle Talente wollen klar und direkt erleben, dass dies nicht nur auf dem Papier stattfindet, sondern auch im Arbeitsalltag (vor-) gelebt wird.

Die Kernfrage: Warum ausgerechnet hier arbeiten?

Kurz: Geschäftsführer und andere Entscheider müssen in der Lage sein, eine grundlegende Frage überzeugend zu beantworten: "Warum sollten Tech-Expertinnen und Tech-Experten ausgerechnet hier arbeiten?" Sie könnten auch woanders ihr Potenzial entfalten. Was bietet die eigene Organisation, was andere nicht bieten? Hier ist Ehrlichkeit gefragt, Konsequenz und ein klares Bild von der Situation vor Ort.

CIOs sollten dies vorantreiben. Denn Unternehmen können es sich nicht leisten, auf "gut Glück" voranzugehen. Dafür ist der Toleranzkorridor zu schmal. CEOs müssen umfangreiche Entscheidungen zur Personalstrategie treffen, und das so bald wie möglich. CIOs können die Basis für diese Entscheidungen liefern, denn sie sitzen schließlich an der Quelle: Sie wissen, was gebraucht wird, sie arbeiten eng mit entsprechenden Talenten zusammen und kennen ihre Bedürfnisse.

CIOs gestalten Personalstrategie mit

CIOs werden auf diese Weise zum Mitgestalter nicht nur der Digitalisierungs-, sondern auch der Personalstrategie. Sie können definieren, wo es Lücken im Know-how-Pool der Organisation gibt, welche Talente und Fähigkeiten Zukunftstreiber werden können und was mit Upskilling oder Restrukturierungen geregelt werden kann. Sie haben außerdem einen direkten Einfluss auf die Art der Zusammenarbeit der Menschen in den Digital-Teams und können dort organisatorisch ansetzen. Und schließlich treffen sie Entscheidungen über andere, ganz grundlegende Faktoren, die ausschlaggebend für die Talentgewinnung sein können - man denke etwa an die Zusammensetzung des Tech Stack: mit attraktiven Technologien können sie ein herausforderndes, motivierendes Arbeitsumfeld bieten, mit veralteten Systemen Talente aber auch abschrecken.

CIO, CEO, CHRO als Task Force

Wichtig ist, das CIOs möglichst effektiv und eng mit CEOs und CHROs zusammenarbeiten. Sie sollten die Suche nach Talenten als eine gemeinsame Aufgabe begreifen und verstehen, dass alle drei ihren Teil dazu beitragen müssen. Mit einer breit aufgestellten Führungsmannschaft können sie eine gemeinsame Zielsetzung, eine "Roadmap", erarbeiten. In zahlreichen Unternehmen wird die Personalgewinnung jedoch noch immer größtenteils an die HR ausgelagert. Mit so einem historisch gewachsenen Silodenken sollte Schluss sein.

Dass dabei zahlreiche organisatorische Herausforderungen bewältigt werden müssen, ist klar. Man denke etwa an die Frage des Remote Working. Die Pflicht dazu ist seit kurzem gefallen, aber Tech-Talente sehen es in den meisten Fällen als absoluten Standard an. Entstehen, wenn ihnen das ermöglicht wird, ähnliche Wünsche in anderen Bereichen der Organisation? Und was geschieht, wenn dazu noch andere Maßnahmen kommen, um Tech-Berufsprofile attraktiver zu machen? Solche Diskussionsfelder sollten von Anfang an durchdacht werden - und zwar im Team.

Gemeinsam Klarheit schaffen

Dabei lautet die Empfehlung, von Anfang an Transparenz zu schaffen: Welches Know-how muss grundsätzlich in die Organisation geholt werden, und welche Rolle können Aus- und Weiterbildungsangebote vorhandener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter spielen? Davon ausgehend, können CEOs die richtigen Prioritäten für Tech-Talent-Initiativen und Personalbeschaffung setzen. CIOs sollten an diesem Punkt darauf achten, auch die Opportunitätskosten zu verdeutlichen. Denn nicht zu handeln, und das Gewinnen von Tech-Talenten weiter schleifen zu lassen, ist keine Alternative mehr. (wh)

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