Was ist organisationales Lernen?



Maria Korolov berichtet seit über zwanzig Jahren über aufstrebende Märkte und Technologien. Sie schreibt für die US-amerikanische IDG-Publikation CSO.
Viele Unternehmen setzen im Kleinen auf KI, versäumen es aber, formale Prozesse einzuführen, damit die gesamte Organisation lernen und sich schneller transformieren kann.
Zu den Prinzipien organisationalen Lernens gehört es, dass KI und Mensch zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen. So entsteht für das Unternehmen ein Mehrwert.
Zu den Prinzipien organisationalen Lernens gehört es, dass KI und Mensch zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen. So entsteht für das Unternehmen ein Mehrwert.
Foto: Lightspring - shutterstock.com

Die Erfolge in Projekten zu maschinellem Lernenmaschinellem Lernen oder künstlicher Intelligenz (KI)künstlicher Intelligenz (KI) zeigen sich in vielen Unternehmen nur eingeschränkt, wenn überhaupt. Experten glauben den Grund zu kennen: Die Betriebe versäumen es, ihre Erfahrungen über die gesamte Organisation hinweg zu teilen und für weitere Vorhaben zu nutzen. So gelingt es vielleicht, mithilfe von KI eine manuelle Aufgabe zu automatisieren oder bessere Vorhersagen für einzelne Abläufe zu treffen. Doch die wenigsten schaffen es, Erfahrungen aus ihren KI-Projekten in der Breite zu nutzen, um sich nach und nach zu transformieren. Alles zu Künstliche Intelligenz auf CIO.de Alles zu Machine Learning auf CIO.de

So führen Unternehmen nur in Ausnahmefällen formale Strukturen ein, um ihre KI-Learnings systematisch zu erfassen und für andere bereitzustellen. Einer aktuellen Studie von MIT Sloan Management Review und Boston Consulting Group zufolge zogen im vergangenen Jahr nur elf Prozent der befragten Betriebe einen signifikanten Nutzen aus ihren KI-Initiativen.

Bewertung von Kreditanträgen in der Finanzwirtschaft

Ein gern genommenes Beispiel für ungenutzte Chancen ist die Bewertung von Kreditanträgen in der Finanzwirtschaft, die durch maschinelles Lernen deutlich optimiert werden könnte. Die Kriterien sind festlegbar und lassen sich algorithmisch abbilden, die Zahl der Kreditsachbearbeiter könnte gesenkt werden. Dort die Kosten zu reduzieren, ist natürlich ein sensibles Thema. Die Mitarbeiter werden zögern, daran mitzuarbeiten und sich so potenziell um den eigenen Job zu bringen.

Untätig zu bleiben ist aber für Banken mittelfristig keine Option, denn dort geht es um viel mehr als die Verbesserung eines Detailprozesses. Aus den Daten rund um Kreditanträge lassen sich viele Informationen gewinnen, die für das Geschäft insgesamt relevant sind. Eine Bank kann zum Beispiel Kundengruppen besser segmentieren und unterversorgte Bereiche aufspüren. Dort ließen sich Kunden dann mit besonderen Angeboten ködern, was zu einer Ausweitung des Geschäfts insgesamt führen würde.

Grundlegende Erneuerung des gewohnten Kreditprozesses

Oder die Bank könnte die Daten nutzen, um mehr über die Beweggründe zu erfahren, warum bestimmte Menschen keinen Kredit aufnehmen wollen. "Möglichweise fürchten ja einige, dass allein schon das Bemühen darum auf Kosten ihrer Kreditwürdigkeit gehen könnte", sagt Sam Ransbotham, Professor für Informationssysteme an der Carroll School of Management des Boston College und einer der Autoren der MIT-Sloan-Studie. Das ließe sich ändern, indem den Interessenten eine risikofreie Prüfung zugesichert würde, die sich garantiert nicht auf ihre Kreditwürdigkeit auswirkt. "Es geht also nicht um eine platte Automatisierung des gewohnten Kreditprozesses, sondern um dessen grundlegende Erneuerung", sagt Ransbotham.

KI würde also den Einstieg in eine neue, vielversprechende Ära der Kreditwürdigkeitsprüfung weisen, Erfolge könnten dem Unternehmen signifikantes Wachstumspotenzial bescheren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sich dann zeigen, dass die Mitarbeiter - Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft vorausgesetzt - die neue Technologie nutzen und sich damit viel interessantere berufliche Perspektiven eröffnen könnten. Ransbotham sieht daher CIOs nicht so sehr in der Pflicht, bereits bestehende Abläufe effizienter zu gestalten. KI und ML böten ihnen vielmehr die Chance, Dinge anders und besser zu erledigen, der Hebel für zusätzliche Wertschöpfung sei groß.

In der Studie von MIT Sloan und Boston Consulting, für die 3.000 Manager in aller Welt befragt wurden, wird deutlich, unter welchen Umständen die erfolgreichen elf Prozent "signifikante finanzielle Vorteile" durch KI erzielt haben. Dort wurde die Technik nicht für simple Automatisierung herangezogen, sondern in die übergeordnete Geschäftsstrategie eingebettet. Diese Unternehmen haben Wege gefunden, um Mensch und KI zusammenzuführen, so dass sich Mitarbeiter und Technik optimal ergänzen. "Wir haben herausgefunden: Wenn sich Unternehmen mit organisationalem Lernen beschäftigen und entsprechend ausrichten, steigt die Wahrscheinlichkeit um ein Vielfaches, dass sie zu diesen elf Prozent der Erfolgreichen gehören", sagt Ransbotham.

Große Wetten auf KI

Ein imposantes Beispiel für den Nutzen von KI liefert derzeit der Pharmazie- und Konsumgüterkonzern Johnson & Johnson, der Ende Januar seinen Impfstoff für COVID-19 ankündigte. Das Vakzin kann mit nur einer Impfung verabreicht werden und muss anders als die Alternative von Pfizer und Biontech nicht extrem heruntergekühlt werden. Laut Johnson & Johnson unterbindet der Impfstoff zwar nur in 66 Prozent der Fälle Infektionen, aber er verhindert zu 85 Prozent schwere und zu nahezu 100 Prozent tödliche Verläufe.

CIO Jim Swanson sagt, den Impfstoff hätte es ohne KI nicht gegeben. Vor acht oder neun Monaten habe Johnson & Johnson noch zwei Wochen dafür gebraucht, eine Charge irgendeines Impfstoffs herzustellen, sagt er. Jetzt würden zwei Chargen pro Woche fertig, eine vierfache Verbesserung also. "Wir haben KI für jedes Detail eingesetzt, das reichte vom Fermentationsprozess bis hin zu den betriebswirtschaftlichen Kalkulationen", sagt er. "All die analytischen Details summieren sich am Ende zu unserem Ergebnis."

Mit KI neue Geschäftsmöglichkeiten erschließen

Vor allem die verbesserte Zusammenarbeit über mehrere Fachbereiche hinweg habe den Prozess beschleunigt, berichtet Swanson. Die Data Scientists bei Johnson & Johnson beherrschten nicht nur Tools und Technik, sondern immer auch fachliche Aspekte im Forschungsbereich oder der Supply Chain. Doch die schlagzeilenträchtige Impfstoffentwicklung ist längst nicht alles. Johnson & Johnson nutzt KI inzwischen generell dazu, neue Geschäftsmöglichkeiten zu erschließen.

Lösungen auf der Basis von maschinellem Lernen helfen beispielsweise Augenärzten, anhand von Netzhaut-Scans Glaukome zu finden. Zudem nutzt der Pharmariese KI für Operationsroboter in der Chirurgie: "Man hat eine viel höhere Präzision und bessere Verfahren", lautet das Fazit des CIO. Auch die Abläufe vor und nach einem Eingriff ließen sich verbessern: "Man kann KI so einsetzen, dass Patienten die exakt richtige Behandlung bekommen, so dass ihre Genesung bestmöglich unterstützt wird."

Personalisierte Produktempfehlung

Auch für Hautpflegemittel der Produktreihe "Avena" setzt der Konzern auf KI. Kunden fotografieren ihre Haut und erhalten anhand dessen eine personalisierte Produktempfehlung. Johnson & Johnson nutzt diese Bilder im Sinne des organisationalen Lernens auch, um generell herauszufinden, welche Hautprobleme bestimmte Menschengruppen haben. "Dieses Daten-Feedback von Seiten der Kunden hilft uns, die besseren Produkte zu kreieren", sagt der CIO.

Natürlich ist das nur möglich, wenn die vorhandene Daten-Infrastruktur Privacy und Sicherheit garantiert - die Basisvoraussetzung dafür, dass bei Johnson & Johnson überhaupt viele verschiedene Menschen mit diesen Daten arbeiten können. "Wenn man Daten nicht sicher teilen kann, kann man sie gar nicht teilen", postuliert Swanson. Oft müsse man sie anonymisieren, um sich auf bestimmte Phänotypen zu konzentrieren - zum Beispiel auf Altersgruppen mit bestimmten Erkrankungen.

Der letzte und wichtigste Teil der organisationalen Lernstrategie von Johnson & Johnson betrifft den Aufbau von kollektivem Know-how. "Wenn man sich mit der Nutzung von Daten nicht auskennt, kommt man nicht weiter", sagt Swanson. Wissenschaftler aus Forschung und Entwicklung, kaufmännisches Personal und Supply-Chain-Professionals würden sich daher gleichermaßen damit beschäftigen. "Wir haben einen Data-Science-Beirat gegründet, den ich gemeinsam mit unserem Forschungschef leite. Wir beide haben entschieden, KI dezentral in unseren Geschäftsbereichen auszurollen."

Konzernspitze untertützt KI-Strategie

Noch wichtiger sei, dass die KI-Strategie von der Konzernspitze gestützt werde. "Wir sind uns einig darin, dass wir Technologie im Allgemeinen und KI im Besonderen zum Kern unseres Unternehmens machen wollen. Das ist nichts, was Sie nebenbei machen können", sagt Swanson.

Anand Rao, Partner und Global AI Leader bei PricewaterhouseCoopers, hält das Vorgehen für vorbildlich. Johnson & Johnson gehöre zu den Konzernen, die KI im gesamten Unternehmen so verankern würden, dass sie von möglichst vielen Mitarbeitern genutzt werde - auch von solchen, die keinen technischen oder analytischen Hintergrund hätten. "Unternehmen werden mit KI keinen RoIRoI erzielen, wenn ihre Leute nicht gut geschult, gecoacht und gemanagt werden", sagt Rao. "Ziel muss es sein, dass nicht nur Einzelpersonen oder Kleingruppen, sondern die gesamte Organisation lernt." Alles zu ROI auf CIO.de

Wichtig sei es Mitarbeiter zu haben, die "mehrsprachig" in dem Sinne sind, dass sie die geschäftliche Seite genauso wie die Software und die KI-Algorithmen verstehen. Alternativ dazu gebe es Sinn, ein Team so zusammenzustellen, dass beide Perspektiven eingebracht würden. Das sei eine große Herausforderung, so Rao. "Es ist schwierig, Menschen mit unterschiedlichen Denkweisen dazu zu bringen zusammenzuarbeiten."

Mensch-Maschine-Kollaboration

Ein anderes Unternehmen, das sich das Prinzip des organisationalen Lernens zu Herzen nimmt, ist Genpact, ein globales Professional-Services-Unternehmen. Seine Wurzeln liegen im General-Electrics-(GE-)Konzern, der Genpact 2005 mit etwa 100.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 3,5 Milliarden US-Dollar ausgegründet hatte.

Als die Pandemie zuschlug, brachen Genpacts Einnahmen weg und das Unternehmen hätte eigentlich Tausende Mitarbeiter entlassen müssen, da viele Kunden von der Krise stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren, berichtet Gianni Giacomelli, Chief Innovation Officer des Unternehmens. "Stattdessen waren wir in der Lage, sehr schnell auf neue Marktanforderungen zu reagieren und unser Personal in kürzester Zeit umzuschulen", sagt Giacomelli, der im Unternehmen auch für Mitarbeitertraining und -entwicklung zuständig ist. "Manchmal dauerte es nur ein paar Wochen, um sie in neue Jobs zu bringen. Dadurch haben wir es tatsächlich geschafft, im Vergleich zu unseren Mitbewerbern zu wachsen, sogar während COVID-19."

Die Umschulung wurde durch gezielten Technologie-Einsatz möglich. Genpact nutzte Process Mining, Natural Language Processing (NLP) und Netzwerkanalysen, um herauszufinden wie Dinge im Unternehmen tatsächlich erledigt werden und, wer über welche Fähigkeiten und welches Fachwissen verfügt und wo es Ungereimtheiten in den Abläufen gibt.

Die so gewonnenen Informationen halfen dabei, das Personal besser einzusetzen. Sobald ein Mitarbeiter eine andere neue Rolle übernommen hatte, ermöglichten KI-Systeme ihm eine schnelle Einarbeitung, indem sie den Prozess für die jeweiligen Aufgaben beschrieben oder die jeweilige Person mit relevanten Experten verbanden. "Dadurch konnten wir viel schneller auf die neuen Bedingungen reagieren, mit denen wir aufgrund der Pandemie konfrontiert waren", sagt Giacomelli.

Wissensmanagement verbessert sich

Mit den neuen Technologien bekommt Genpact in den Griff, waswas viele Jahre lang nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Unternehmen schiefging: das Wissensmanagement. Vor fünf Jahren lag die Misserfolgsrate entsprechender Programme laut dem Knowledge Management Institute bei etwa 50 Prozent. Aber aufgrund erheblicher Verbesserungen bei KI-Technologien im allgemeinen und NLP im Besonderen hat sich die Situation dramatisch verändert. "In den letzten zwei, drei Jahren ist die Qualität der von Maschinen selbst erstellten Ontologien viel besser geworden", sagt Giacomelli. "Was man zurückbekommt, ist viel präziser." Alles zu Was ist auf CIO.de

KI ist eine große Hilfe, um organisationales Wissen in Dokumenten, Geschäftsprozessen und auch in den Köpfen aufzustöbern. Bei Genpact ist das nicht allein die Domäne der IT-Abteilung. Laut Kathleen Featheringham, Direktorin für KI-Strategie und Training bei Booz Allen Hamilton, entscheidet sich in der Qualität des Rollouts, ob es einen relevanten RoI gibt oder nicht. "KI ist die vierte industrielle Revolution", sagt sie. "Sie verändert das Spiel grundlegend. Es geht hier nicht um ein IT-Problem, alle Rollen entwickeln sich weiter."

Die KI-gestützte Unternehmenstransformation erfordere eine Neubewertung der Leistungsziele, des Mitarbeitertrainingszielen und auch der gesamten Vision. Sei das nicht der Fall und es gebe keinen Konsens über das Vorgehen, könnten das die Mitarbeiter sehr übelnehmen, warnt Featheringham.

Neue Geschäftsfelder öffnen

Zu den Prinzipien organisationalen Lernens gehört es, dass KI und Mensch zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen. "Gelingt eine Kooperation, in der Maschinen tun, was sie gut können, und Menschen ihre Intuition und ihr Wissen einbringen, wird man einen großen geschäftlichen Nutzen sehen", ist Judith Hurwitz überzeugt, Präsidentin und Gründerin von Hurwitz and Associates sowie Autorin von inzwischen zehn Büchern zu Themen wie Führung, Technologie und Analytics.

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