Accenture-Chefin Christina Raab

"Disruptionsindex springt in neue Höhen"

Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.
In Zeiten multipler Krisen ist für Unternehmen die Fähigkeit, schnell auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren zu können, absolut erfolgskritisch geworden. Darüber haben wir mit Accenture-Chefin Christina Raab gesprochen.
Wie schaffen es Unternehmen, sich in Zeiten disruptiven Wandels schnell anzupassen? Laut Christina Raab, Geschäftsführerin von Accenture in der Region Deutschland, Österreich und Schweiz, hilft der Fokus auf einen "digitalen Kern".
Wie schaffen es Unternehmen, sich in Zeiten disruptiven Wandels schnell anzupassen? Laut Christina Raab, Geschäftsführerin von Accenture in der Region Deutschland, Österreich und Schweiz, hilft der Fokus auf einen "digitalen Kern".
Foto: Accenture

Inflation, der Krieg in Osteuropa, Lieferkettenprobleme - momentan sind die Unternehmen vielfältigen Krisen ausgesetzt. Wie beobachten Sie das bei Accenture?

Christina Raab: Wir haben dafür eine Art Disruptionsindex entwickelt, der es uns erlaubt, regelmäßig die Volatilität in den Märkten zu messen. Er setzt sich aus unterschiedlichen Indikatoren zusammen: von geo- über finanzpolitische bis hin zu sozialen Themen. Auch Rahmenbedingungen wie die Entwicklung der Rohstoffpreise fließen hier ein.

Damit lässt sich feststellen, ob die Volatilität und die Anzahl der disruptiven Faktoren zugenommen haben. Wir sehen uns das über einen Zeitraum von fünf Jahren an, zuletzt von 2017 bis 2022. In dieser Zeit ist der Disruptionsindex um 200 Prozent gestiegen.

Zehn oder mehr Krisen gleichzeitig

Und was bedeutet das?

Christina Raab: In der Fünf-Jahres-Periode davor lag der Anstieg nur bei vier Punkten. Die Unternehmen müssen sich im Moment mit zehn oder mehr unterschiedlichen Krisen gleichzeitig beschäftigen. Wir sprechen von multidimensionalen Disruptionen, denen die Betriebe heute ausgesetzt sind. Und das wird sich so bald auch nicht ändern.

Christina Raab

Christina Raab ist seit September 2021 Vorsitzende der Accenture-Ländergruppe Deutschland, Österreich und Schweiz (DACH). Sie ist zudem Mitglied des Global Management Committee des Beratungsunternehmens. Raab leitete vorher in der DACH-Region den Geschäftsbereich Products von Accenture und betreute dabei Kunden aus der Automobil-, der Fertigungs- und der Konsumgüterindustrie. Die deutsche Accenture-Chefin sitzt im Präsidium des Digtialverbandes Bitkom, im Senat der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften, acatech, und im Kuratorium des Forums für nachhaltige Entwicklung der deutschen Wirtschaft, Econsense.

Vermutlich ist der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein solch disruptiver Faktor.

Christina Raab: Ja, das ist ein Black-Swan-Ereignis, genauso wie Corona eines war. Selbst wenn wir solche schwer vorhersehbaren Vorkommnisse mal außen vorlassen, haben wir es immer noch mit mehreren Umwälzungen grundsätzlicher Art zu tun, die gerade parallel stattfinden. Das sind Themen wie die alternde Gesellschaft, der Klimawandel und alles, was mit der technologischen Revolution auf uns zukommt - denken Sie an das Metaverse oder an ChatGPT.

Diese Volatilität wird nicht wieder verschwinden. In der Corona-Pandemie war deutlich zu erkennen, dass Unternehmen, die dank entsprechenden Technologieeinsatzes schnell und umfassend auf Veränderungen reagieren können, erfolgreich durch Krisen kommen. Sie müssen sich ständig anpassen und oft auch in kurzen Zyklen neu erfinden, wenn sie überleben wollen.

CIOs wissen, wie sich Data Literacy vorantreiben lässt

Wenn Technologie hilft, Volatilität und Disruption in den Griff zu bekommen, was bedeutet das für CIOs und CDOs? Müssen sie als Technologie-Scouts stärker vorangehen als bisher?

Christina Raab: Das ist sicher eine Aufgabe, aber ebenso wichtig ist, dass sie die technische Basis schaffen, auf der Veränderungen schnell realisiert werden können. Bei Accenture reden wir ja schon eine ganze Weile vom Digital Core: Er hilft Unternehmen, sich flexibel an unterschiedliche Bedingungen anzupassen. Bestandteile sind eine moderne, Cloud-basierte Infrastruktur, ein professioneller Umgang mit Daten und künstlicher Intelligenz (KI), natürlich Security - und zentrale Plattformen. Das alles verbunden und interoperabel, so dass man im Idealfall einen digitalen Zwilling seines Unternehmens hat.

CIOs und CDOs stehen im Mittelpunkt, weil sie die nötige Kompetenz mitbringen. Sie wissen, wie ein Digital Core aufgebaut sein muss, und wie sich Data Literacy im Unternehmen vorantreiben lässt. Ich glaube allerdings auch, dass durch Trends wie Low Code/NoCode die Verantwortung für Technologie demokratisiert wird. Der Zugang zu Technologie und Digitalisierung wird breiter.

Im Mittelpunkt stehen Daten

Lassen Sie uns einmal Ins Detail gehen: Was genau sind die Elemente, die zu einem Digital Core gehören?

Christina Raab: Im Mittelpunkt stehen die Daten: Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit, Aktualität und Konsistenz. In den meisten Unternehmen stehen wir hier immer noch am Anfang. Innerhalb der einzelnen Bereiche und Funktionen ist der Blick auf Daten oft schon ganz gut, was aber meistens fehlt, ist die Unterstützung von abteilungsübergreifenden End-to-End-Prozessen mit Daten.

Ändert sich beispielsweise das Kundenverhalten, wird das Auswirkungen auf das Unternehmen insgesamt und oft auch noch auf dessen Zulieferer haben. Das durchgängig zu verstehen und zu simulieren, fällt vielen Unternehmen schwer. Wo müssen sie eingreifen? Wo in der Lieferkette nach Alternativen suchen? Wo müssen sie Produkte in andere Märkte umleiten, weil sich die Nachfrage dorthin verschoben hat? Das sind Themen, die Unternehmen nicht immer im Griff haben.

Manche Betriebe versuchen sich zu retten, indem sie eine zentrale Daten-Cloud einführen, um diese übergreifende Sicht für alle Beschäftigten und Rollen zu bekommen …

Christina Raab: Eine moderne Cloud-basierte Infrastruktur ist auf jeden Fall eine zentrale Komponente. Sie hilft, Daten so zu organisieren, dass sich ein Unternehmen in seinen Kernprozessen End-to-End steuern lässt. Aber ganz so einfach ist es leider nicht. Viele Unternehmen verfolgen eine Multi-Cloud-Strategie, weil sie sich ihre Entscheidungsfreiheit und Datensouveränität nicht nehmen lassen wollen. Und viele setzen auch auf einen hybriden Ansatz, der das Vorhalten sensibler Daten in der Private Cloud vorsieht. Es geht zudem um unterschiedliche funktionale oder industriespezifische Schwerpunkte, die gesetzt werden sollen: für vertikale Märkte wird es künftig mehr branchenspezifische Angebote geben.

Eine zentrale Rolle für das Daten-Management ist sinnvoll

Sie haben das Thema Daten im Zusammenhang mit dem Digital Core betont, aber auch festgestellt, dass viele Betriebe mit ihrem Daten-Management bisher nur Fortschritte auf Funktions- oder Abteilungsebene machen. Würde die Berufung eines zentralen Chief Data Officer daran etwas ändern?

Christina Raab: Die Verantwortung für Daten ist in den Unternehmen breit verteilt. Jeder hat im Rahmen seiner Rolle und Funktion Zugriff und Verantwortung für Qualität, Aktualität, Konsistenz etc. Ich denke aber schon, dass es sinnvoll sein kann, eine zentrale Kompetenz zu haben - nennen Sie die Rolle Chief Data Officer oder wie auch immer. Diese Person muss sich um zentrale Fragestellungen kümmern: Wie sehen Architekturen aus? Wie wird Vertraulichkeit gewährleistet? Welche Sicherheitskonzepte sind sinnvoll? Dafür sollte es ein Center of Excellence, vielleicht auch einen Chief Data Officer geben.

Was ist neben dem Daten-Management und der Cloud-Infrastruktur für den digitalen Kern noch wichtig?

Christina Raab: Die intelligente Automatisierung von Abläufen, Datenströmen und Auswertungen ist eine weitere wichtige Komponente. Sie ermöglicht es erst, End-to-End-Prozesse optimal einzurichten und zu beherrschen.

Das sind Themen, die viele Firmen beherrschen oder? Ich denke an Geschäftsprozess-Management, digitale Workflows, Software-Bots, Low Code etc.

Christina Raab: Ja, allerdings ist auch hier unsere Erfahrung, dass Fortschritte vor allem in einzelnen Prozessabschnitten erzielt werden. Die Unternehmen arbeiten mit Robotic Process Automation (RPA), Low-Code-Plattformen und Process Mining Tools. Der große Effizienzgewinn kommt aber erst dann zustande, wenn es gelingt, Prozessketten durchgängig im Sinne eines Business Process Re-Engineering zu gestalten und zu automatisieren.

Optimierungen auf Ebene der Silos haben zwar auch eine positive Wirkung, aber Unternehmen erklimmen damit meistens nicht die nächsthöhere Stufe ihrer Leistungsfähigkeit. Irgendwann stoßen sie an Engpässe, die bremsen. Standardisierung und Optimierung von Prozessen Ende zu Ende - darauf kommt es an.

Um neue Wertschöpfungsmöglichkeiten durch digitale Geschäftsmodelle zu schaffen, braucht es neben der technischen Basis auch digitale Produkte und Services sowie eine Idee, wie ein Unternehmen an der Plattformökonomie teilnehmen kann.

Christina Raab: Ja, und ich würde sagen, bei den Platforms to Consumer sind die amerikanischen und asiatischen Wettbewerber den europäischen Unternehmen weit voraus. Anders sieht es in den klassischen Industrien aus, die vor allem in Deutschland wichtig sind: der Automotive-Sektor, der Maschinen- und Anlagenbau oder der Chemie- und Pharmabereich. Hier gab es schon früh Industrie-4.0- und Smart-Factory-Projekte und es gelingt teilweise auch, Plattformansätze mit neuen Services umzusetzen. Das Wachstumspotenzial bleibt auch in Zukunft groß. Ansätze wie Catena-X, Manufacturing-X, die jetzt mit mehr Nachdruck vorangebracht werden, werden neue Geschäftsmodelle aus der Plattformökonomie heraus ermöglichen.

Für eine Zusammenarbeit auf Datenebene müssen Unternehmen und auch Wettbewerber vertraulich kooperieren. Wir haben schon viele branchenweite Konzepte und Marktplätze kommen und geräuschlos wieder verschwinden sehen ...

Christina Raab: ... darum wird es aber gehen. Daten und Konnektoren bereitzustellen, ist technisch kein großes Thema. Es geht wirklich um die Bereitschaft, das eigene Verständnis von Partnerschaft zu überdenken und gemeinsam Wertschöpfung aus Daten zu ziehen. Da gibt es noch viel Veränderungsbedarf. Und den sehen wir auch in Sachen Organisation und Kultur. Gerade beim Plattformthema müssen die Mitarbeitenden engagiert sein, hier ist ein kultureller Wandel erforderlich.

In die digitale Kundenkommunikation ist Bewegung gekommen

Ein weiterer Megatrend ist das Kundenmanagement: Im digitalen Zeitalter kann man mehr über seine realen und potenziellen Kunden und ihr Verhalten erfahren als je zu vor. Mir scheint aber, als wäre der Hype rund um Customer Experience Management schon wieder vorbei.

Christina Raab: Ich würde nicht von einem Hype reden, und ich teile Ihre Einschätzung an dieser Stelle tatsächlich nicht. CRM, Marketing Automation, digitaler Vertrieb - da ist unheimlich viel Bewegung reingekommen. Gerade in der Corona-Krise haben sich die Unternehmen daran gemacht, ihre digitale Kundeninteraktion über alle Kanäle hinweg zu gestalten und eine gemeinsame Sicht auf den Kunden zu schaffen. Eine hochindividualisierte, datenbasierte Kundeninteraktion ist aktueller denn je.

Sind die Firmen denn auch besser geworden? Um ein Beispiel zu nennen: Gelingt es den Betrieben, Daten vom Kundendienst zeitnah anderen Abteilungen wie Forschung und Entwicklung, Vertrieb oder Marketing zur Verfügung zu stellen und so schnell Verbesserungsmaßnahmen ganzheitlich einzuleiten?

Christina Raab: Da gibt es noch große Verbesserungspotenziale. Aber gerade Corona hat gezeigt, wie wichtig eine übergreifende Datenbasis und Strategie ist, um an allen Kundenkontaktpunkten optimal liefern zu können. Da schließt sich der Kreis, und wir sind wieder beim Digital Core: Wenn die zugrundeliegenden Systeme nicht miteinander reden und keine Interoperabilität gewährleistet ist, wird es diesen einheitlichen Blick auf den Kunden nicht geben.

Zur Startseite