Hartmut Rosa

"Die eingesparte Zeit ist im Eimer"

11.03.2014
Von Christopher Schwarz und Dieter Schnaas

Erfahrungen jenseits des Steigerungszwangs

Und deshalb, meinen Sie, geht uns das Gefühl des "In-der-Welt-Seins" verloren?

Jeder kennt das. Da kommt eine MailMail: Bitte lass uns den Termin verschieben. Da kommt ein Anruf: Kannst Du noch ein bisschen Obst einkaufen? Da kommt eine SMS: Bis drei Uhr muss der Text fertig sein. Da erreicht dich ein Tweet: Wusstest Du schon, dass unser Schulfreund gestorben ist? Verschiedene Sphären, die ganz unterschiedliche psychische Anforderungen an uns stellen. Aber mal eben von Beruf auf Privat, von Denkarbeit auf Trauer umstellen - so etwas geht nicht innerhalb von 20 Minuten. Dann entsteht so etwas wie Blasiertheit, wie Entfremdung. Denn eigentlich hat das alles nichts mehr mit mir zu tun. Ich schaffe es nicht mehr, mir die Dinge anzuverwandeln. Alles zu Mail auf CIO.de

Wie schafft man Abhilfe? Etwa dadurch, sich für bestimmte Dinge explizit nicht zu interessieren?

Das behaupten viele Zeitmanager, Lothar Seiwert etwa. Man müsse Prioritäten setzen. Es sei eine Charakterschwäche, nicht "Nein" sagen zu können. Aber was heißt das? Wenn mein neues Buch mir das Wichtigste ist - soll ich dann die Anfrage des Rektors ignorieren, der uns für die nächste Exzellenzinitiative in Stellung bringen will? Oder dem Studenten, der ein Empfehlungsschreiben braucht, bescheiden, sein beruflicher Werdegang stehe auf meiner Prioritätenliste leider ganz unten? Ich finde, es wäre eine Charakterschwäche zu sagen: Ihr könnt mich alle mal.

Was also bleibt uns übrig: Mit der Beschleunigung leben lernen?

Wir sollten darüber nachdenken, was wir eigentlich wollen, was ein "gutes Leben" ist. In den einschlägigen Ratgebern ist immer nur von Ressourcensteigerung die Rede: Wie werden Sie glücklicher? Wie werden Sie reicher? Wie finden Sie bessere Freunde? Ich behaupte: Wer diesen Ratgebern folgt, verfehlt das gute Leben. Stattdessen geht es um musikalische, körperliche, auch soziale Erfahrungen - Erfahrungen, die jenseits des Steigerungszwangs liegen …

... religiöse Erfahrungen ...

... unbedingt. Die Bibel ist ein einziges Dokument des Flehens, des Hoffens und Schreiens nach irgendeinem, der da ist und antwortet. Sie gibt ein Resonanzversprechen: Da ist jemand, der hört dich. Deshalb ist Religion für viele - entgegen allen soziologischen Prognosen - auch weiterhin ein attraktiver Erfahrungsbereich.

(Quelle: Wirtschaftswoche)

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